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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

des deutschen Altertums. Seitdem ihre Korrespondenz mit Arnim vorliegt, sehen wir, daß Jacobs stärkere Persönlichkeit mehr und mehr von der Gegenwart abrückte und Wilhelm mit sich zog. Es war außerdem die Zeit, wo durch Lachmanns Nibelungenkritik (1816) eine Reaktion gegen die bis dahin geltenden Grundsätze eingeleitet wurde, und die Brüder Grimm entzogen sich diesem Einflusse nicht, der zumal durch persönliche Freundschaft gesteigert wurde. Die Altdänischen Heldenlieder, die Märchen, die Edda, die Sagen (1818) sind die entscheidenden Werke der ersten, die Grammatik (seit 1819), die Heldensage, die Mythologie die der zweiten Epoche, bis die Brüder nach mehr als zwanzigjähriger getrennter Arbeit sich wieder zum Deutschen Wörterbuche vereinigten. Ihren freien Standpunkt aber gaben sie auch der Lachmannschen Schule gegenüber niemals auf. Der latente Gegensatz brach ab und zu sogar in Zusammenstöße aus. In einzelnen Schriftstücken von beiden Seiten, sowohl in gedruckten wie noch ungedruckten, liegen dafür die Beweise vor. Sie konnten sich nicht dazu entschließen, bestimmte Ergebnisse der Nibelungenkritik, die allmählich heute sogar von erklärten Anhängern der Schule aufgegeben werden, auf ihre wissenschaftliche Überzeugung hinzunehmen. Das Bewußtsein ihrer literarisch-poetischen Herkunft mit praktischen, vaterländischen Gegenwartszielen blieb immer stark genug in ihnen, um auch ihren späteren Werken die wohltuende, unverletzende Behaglichkeit poetisch-künstlerischer Grundauffassung zu verleihen, die das meiste, was sie schrieben, aus dem engeren Bezirk der Fachwissenschaft in das breitere Gebiet der allgemeinen geistigen Teilnahme hinüberführte.

Als Marburger Studenten schon, am Anfang des 19. Jahrhunderts, wurden die jugendlichen Brüder Grimm durch Savignys Lehre und Umgang für die Absichten und Ziele der Romantik gewonnen. Damals lernten sie in Marburg Clemens Brentano, seinen Schwager, kennen, der mit Achim von Arnim alte deutsche Lieder sammelte und sich mit ihm 1805 in Heidelberg zur Herausgabe vereinigte. Diese Bestrebungen zündeten bei Jacob und Wilhelm Grimm, denen sich in Brentano und Arnim das allgemeine Zeitinteresse am wirksamsten und nachstrebenswertesten darstellte. In ihrer hessischen (eigentlich fränkischen) Heimat, den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft Hanau, faßten sie nach mündlicher Erzählung Volkslieder, Märchen und Sagen auf, während daneben ihr literarisches Studium ihnen weitere gedruckte und handschriftliche Quellen erschloß. Die Arbeitsteilung unter den Freunden fand in der Weise statt, daß Arnim und Brentano das Volkslied in ihrer Pflege behielten, Jacob und Wilhelm Grimm in der Folgezeit für sich allein die Märchen und

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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)