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Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576

– „Ihre Mutter? Nein, Ines, das sollst du nicht.“

„Was soll ich denn, Rudolf?“

– Hätte sie die nahe liegende Antwort auf diese Frage jetzt verstehen können, sie würde sie sich selbst gegeben haben. Er fühlte das und sah ihr sinnend in die Augen, als müsse er dort die helfenden Worte finden.

„Bekenn’ es nur!“ sagte sie, sein Schweigen mißverstehend, „darauf hast du keine Antwort.“

„O, Ines!“ rief er. „Wenn erst aus deinem eigenen Blut ein Kind auf deinem Schoße liegt!“

Sie machte eine abwehrende Bewegung, er aber fuhr fort:

„Dann wirst du’s fühlen, wie das Entzücken, das aus deinen Augen bricht, das erste Lächeln deines Kindes weckt und seine kleine Seele zu dir zieht. – Auch über Nesi haben einst zwei selige Augen so geleuchtet. Dann schlang sie den kleinen Arm um einen Nacken, der sich zu ihr niederbeugte, und sagte: ‚Mutter!‘ – Zürne nicht mit ihr, daß sie es zu keiner Andern auf der Welt mehr sagen kann!“

Ines hatte seine Worte kaum gehört; ihre Gedanken verfolgten nur den einen Punkt.

„Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, warum sagst du denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Weib!“

Und dabei blieb es. Was gingen sie seine Gründe an!

Er zog sie an sich; er suchte sie zu beruhigen; sie küßte ihn und sah ihn durch Thränen lächelnd an; aber geholfen war ihr damit nicht.


*       *       *

Als Rudolf sie verlassen hatte, ging sie hinaus in den großen Garten. Bei ihrem Eintritt sah sie Nesi mit einem Schulbuche in der Hand um den breiten Rasen wandern, aber sie wich ihr aus und schlug einen Seitenweg ein, der zwischen Gebüsch an der Gartenmauer entlangführte.

Dem Kinde war beim flüchtigen Aufblick der Ausdruck von Trauer in den schönen Augen der Stiefmutter nicht entgangen, und, wie magnetisch nachgezogen, immer lernend und ihre Lection vor sich hermurmelnd, war auch sie allmählich in jenen Steig gerathen.

Ines stand eben vor einer in der hohen Mauer befindlichen Pforte, die von einem Schlinggewächs mit lila Blüten fast verhangen war. Mit abwesenden Blicken ruhten ihre Augen darauf, und sie wollte schon ihre stille Wanderung wieder beginnen, als sie das Kind sich entgegenkommen sah.

Nun blieb sie stehen und fragte:

„Was ist das für eine Pforte, Nesi?“

– „Zu Großmutters Garten!“

„Zu Großmutters Garten? – Deine Großeltern sind doch schon lange todt!“

„Ja, schon lange, lange.“

„Und wem gehört denn jetzt der Garten?“

– „Uns!“ sagte das Kind, als verstehe sich das von selbst.

Ines bog ihren schönen Kopf unter das Gesträuch und begann an der eisernen Klinke der Thür zu rütteln; Nesi stand schweigend dabei, als wolle sie den Erfolg dieser Bemühungen abwarten.

„Aber er ist ja verschlossen!“ rief die junge Frau, indem sie abließ und mit dem Schnupftuch den Rost von ihren Fingern wischte. „Ist es der wüste Garten, den man aus Vaters Stubenfenster sieht?“

Das Kind nickte.

– „Horch nur, wie drüben die Vögel singen!“

Inzwischen war die alte Dienerin in den Garten getreten. Als sie die Stimmen der Beiden von der Mauer her vernahm, beeilte sie sich, in ihre Nähe zu kommen.

„Es ist Besuch drinnen“, meldete sie.

Ines legte freundlich ihre Hand an Nesi’s Wange.

„Vater ist ein schlechter Gärtner,“ sagte sie im Fortgehen; „da müssen wir beide noch hinein und Ordnung schaffen.“

– Im Hause kam Rudolf ihr entgegen.

„Du weißt, das Müller’sche Quartett spielt heute Abend“, sagte er; „die Doctorsleute sind da und wollen uns vor Unterlassungssünden warnen.“

Als sie zu den Gästen in die Stube getreten waren, entspann sich ein langes, lebhaftes Gespräch über Musik; dann kamen häusliche Geschäfte, die noch besorgt werden mußten. Der wüste Garten war für heut’ vergessen.


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Empfohlene Zitierweise:
Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576. Braunschweig: Westermann, 1874, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Storm_Viola_tricolor_566.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)