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Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576

leiser, zuletzt süß wie Bienengetön. Dann noch einmal war’s, als wandele ein blauer Lichtstrahl durch die offenen Augen; und dann war Frieden.

„Gute Nacht, Marie!“ –

Aber sie hörte es nicht mehr.

Noch ein Tag, und die stille, edle Gestalt lag unten in dem großen, dämmerigen Gemach in ihrem Sarge. Die Diener des Hauses traten leise auf; drinnen stand er neben seinem Kinde, das die alte Anne an der Hand hielt.

„Nesi,“ sagte diese, „du fürchtest dich doch nicht?“

Und das Kind, von der Erhabenheit des Todes angeweht, antwortete:

„Nein, Anne, ich bete.“

Dann kam der allerletzte Gang, welcher noch mit ihr zu gehen ihm vergönnt war, nach ihrer Beider Sinn ohne Priester und Glockenklang, aber in der heiligen Morgenfrühe; die ersten Lerchen stiegen eben in die Luft.

Das war vorüber; aber er besaß sie noch in seinem Schmerze; wenn auch ungesehen, sie lebte noch mit ihm. Doch unbemerkt entschwand auch dies; er suchte sie oft mit Angst, aber immer seltener wußte er sie zu finden. Nun erst schien ihm sein Haus unheimlich leer und öde; in den Winkeln saß eine Dämmerung, die früher nicht dort gesessen hatte; es war so seltsam anders um ihn her; nur sie war nirgends.

– – Der Mond war aus dem Wolkendust hervorgetreten und beleuchtete hell die unten liegende Gartenwildnis. Er stand noch immer an derselben Stelle, den Kopf gegen das Fensterkreuz gelehnt; aber seine Augen sahen nicht mehr, was draußen war.

Da öffnete sich hinter ihm die Thür, und eine Frau von dunkler Schönheit trat herein.

Das leise Rauschen ihres Kleides hatte den Weg zu seinem Ohr gefunden; er wandte den Kopf und sah sie forschend an.

„Ines!“ rief er; er stieß das Wort hervor, aber er ging ihr nicht entgegen.

Sie war stehen geblieben.

„Was ist dir, Rudolf? Erschrickst du vor mir?“

Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln.

„Komm,“ sagte er, „laß uns hinuntergehen.“

Aber während er ihre Hand faßte, waren ihre Augen auf das von der Lampe beleuchtete Bild und die daneben stehenden Blumen gefallen. Wie ein plötzliches Verständnis flog es durch ihre Züge.

„Es ist ja bei dir wie in einer Kapelle,“ sagte sie, und ihre Worte klangen kalt, fast feindlich.

Er hatte Alles begriffen.

„O, Ines!“ rief er, „sind nicht auch dir die Todten heilig!“

„Die Todten! Wem sollten die nicht heilig sein! Aber, Rudolf“ – und sie zog ihn wieder an das Fenster, ihre Hände zitterten und ihre schwarzen Augen flimmerten vor Erregung – „sag’ mir, die ich jetzt dein Weib bin, warum hältst du diesen Garten verschlossen und lässest keines Menschen Fuß hinein?“

Sie zeigte mit der Hand in die Tiefe; der weiße Kies zwischen den schwarzen Pyramidensträuchern schimmerte gespenstisch; ein großer Nachtschmetterling flog eben darüber hin.

Er hatte schweigend hinabgeblickt.

„Das ist ein Grab, Ines,“ sagte er jetzt, „oder, wenn du lieber willst, ein Garten der Vergangenheit.“

Aber sie sah ihn heftig an.

„Ich weiß das besser, Rudolf! Das ist der Ort, wo du bei ihr bist; dort auf dem weißen Steige wandelt ihr zusammen; denn sie ist nicht todt; noch eben, jetzt in dieser Stunde warst du bei ihr und verklagst mich, dein Weib! Das ist Untreue, Rudolf; mit einem Schatten brichst du mir die Ehe!“

Er legte schweigend den Arm um ihren Leib und führte sie, halb mit Gewalt, vom Fenster fort. Dann nahm er die Lampe von dem Schreibtisch und hielt sie hoch gegen das Bild empor.

„Ines, wirf nur einen Blick auf sie!“

Und als die unschuldigen Augen der Toten auf sie herabblickten, brach sie in einen Strom von Thränen aus.

„Oh, Rudolf, ich fühle es, ich werde schlecht!“

„Weine nicht so,“ sagte er. „Auch ich habe Unrecht gethan; aber habe auch du Geduld mit mir!“ – Er zog ein Schubfach seines Schreibtisches auf und legte einen Schlüssel in ihre Hand. „Oeffne du den Garten wieder, Ines! – – Gewiß, es macht mich glücklich, wenn dein

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576. Braunschweig: Westermann, 1874, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Storm_Viola_tricolor_569.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)