Seite:Suphan Das Buch Annette 006.jpg

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Erklärt’ es kühn zu deinen Füßen.
Doch mit dem Traum verließ nicht Alles mich;
Nichts als mein Reich ward mir entrissen.

Es ist Voltaire’s Gedicht an die Prinzeß Ulrike von Preußen, Friedrich’s des Großen Schwester[1]:

Souvent un peu de vérité
Se mêle au plus grossier mensonge:
Cette nuit, dans l'erreur d'un songe,
Au rang des rois j'étais monté…

Goethe hatte für dies Cabinetstückchen eine besondere Vorliebe. Er wußte es auswendig, er hat einmal in einem Gespräche mit Eckermann[2] lobpreisend die Schlußzeilen recitirt:

Je vous aimais, princesse, et j’osais vous le dire.
Les dieux à mon reveil ne m’ont pas tout ôté,
Je n’ai perdu que mon empire.

Schwerlich hat er da sich noch erinnert, daß er an den Zeilen des galanten Philosophen sich schon als Jüngling versucht hatte. Aber dieser frühe, unreife Versuch erinnert jetzt uns an die späten in der Zeit der Meisterschaft. In den Stanzen, die Schiller an den Freund richtete, „als er den Mahomet auf die Bühne brachte“, ist von jener frühen Periode, die unter der Herrschaft Voltaire’s und der Franzosen überhaupt stand, die Rede als von „den Tagen charakterloser Minderjährigkeit“. Charakter ist die Gestalt, in der ein innerlich selbständiges Wesen erscheint; in diesem Sinne, nicht im engeren moralischen, hat Schiller das Attribut „charakterlos“ gemeint.

Auch Goethe’s geistige, künstlerische Entwicklung, das sehen wir nun viel gründlicher als wir es bisher wußten, ist durch diese Periode hindurchgegangen. Charakterlose Minderjährigkeit, das ist völlig das Wesen des Buches „Annette“. Nirgends eigenartige Gestaltung inneren Lebens. Lauter angenommene, angelernte, äußerlich gegebene Formen. Man könnte wohl zu jedem Stücke das Muster nennen, nach dem es gearbeitet ist. In der Widmung ist es Gleim, in dem gemischten Genre Gerstenberg, der Dichter der „Tändeleien“, in den liederartigen Erzählungen Christian Felix Weiße, in der schalen Romanze Löwen, in der gereimten Ode Zachariä. Der Liebhaber Annettens begnügt sich damit, ein Poet nach der Mode zu sein und Nachahmern nachzuahmen. Er gefällt sich in den Niederungen der petite poésie. Er steht in einem bewußten Gegensatz zu Klopstock, dem Einzigen, der, von dem hohen Werthe seiner poetischen Sendung durchdrungen, als ein Führer zum Besseren und Höheren dastand. Seinen Zuhörerinnen, den „Mädchen“, ruft er im Anfang seiner zweiten Erzählung („Lyde“) zu:

Doch verzeiht, wenn meine Leier
Nicht von jenem heil’gen Feuer
Der geweihten Dichter glüht.


  1. Oeuvres XIX, 385 Didot.
  2. Gespräche mit Goethe II6, 33.
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Ludwig Suphan: Das Buch Annette, Deutsche Rundschau, Berlin: Paetel, 1985, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Suphan_Das_Buch_Annette_006.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2019)