Seite:Temme Die Volkssagen der Altmark 005.jpg

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die Rolandssäulen zertrümmert oder verstümmelt, und an manchen Orten hat man sie alsdann sogar begraben, wie namentlich in Prenzlau und in Gardelegen. An anderen Orten dagegen hat man sie gut erhalten; dieß ist z. B. der Fall in Brandenburg, Burg und in Stendal. In der letzteren Stadt steht der Roland vor dem Rathhause, so daß er den ganzen Markt übersieht. Er ist ungeheuer groß, und verhältnißmäßig stark; seine Waden sind so dick, wie der Leib des stärksten Mannes in der Stadt. Er hat einen rothen Federbusch auf dem Helme, und trägt ein Schwert in der Hand, das zwölf Ellen lang ist und einen vergoldeten Knopf und Bügel hat. Das Schwert hält er drohend gezückt, so wie er überhaupt ein sehr ernstes, beinahe grießgramiges Gesicht hat. Die linke Hand hat er auf dem märkischen Adler ruhen; hinter ihm befindet sich das Stendaler Stadtwappen, und an dem Untertheile seines Rückens sieht man ein lachendes Narrenbild, oder, wie die Leute sagen, den Eulenspiegel. Zu der Zeit, als der alte Dessauer, damals aber noch ein junger Offizier und ein übermüthiger Prinz, zu Stendal in Garnison lag, soll derselbe öfters sich das Vergnügen gemacht haben, aus einem gegenüber liegenden Weinhause, wo er zu zechen gepflegt, nach dem ernsten alten Ritter, wie nach einer Scheibe, zu schießen, und es ist gewiß, daß dem Roland sein Kinn lange Zeit gefehlt hat. Im Jahre 1837 aber hat ein Verein, der sich in Stendal zur Verschönerung der Stadt und ihrer Umgebungen bildete, das Kinn geschickt wieder herstellen, auch sonstige Gebrechen, welche der Lauf der Zeiten an der Säule hervorgebracht, ausbessern, so wie ihm ein neues Schwert geben lassen, da das alte, von Holz, ganz von der Luft und vom Wetter zerstört war. Der alte ritterliche Vetter des großen Kaisers sieht jetzt wieder ganz frisch und wie neugeboren aus.

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Jodocus Donatus Hubertus Temme: Die Volkssagen der Altmark. Nicolai, Berlin 1839, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Temme_Die_Volkssagen_der_Altmark_005.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)