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An einen Kreis junger Mädchen, die aufgefordert waren, ihre Lebenswünsche kund zu tun.
Polsingen, 4. Nov. 1896

 Meine lieben jungen Freundinnen in Stein, ich danke Euch für Eure Zettel mit der Kundgebung Eurer Wünsche. Ich hoffe, daß Ihr ganz aufrichtig geschrieben habt und durch nichts Euch habt beeinflussen lassen. Manche von Euch haben sich ein langes Leben als etwas besonders Begehrenswertes gedacht. Das ist an sich ja nichts Unrechtes. Aber Ihr wißt, denke ich, alle, daß auch ein langes Leben schnell enteilt, und die alt geworden sind, können es Euch sagen, daß es wahrhaftig mit unserm Leben ist, als flögen wir davon. Und uns allen ist ein Ziel gesetzt, das wir nicht übergehen können und dem wir mit jedem Tag, jeder Stunde näher kommen. Darum ist es ratsam, den Sinn weniger auf ein langes Leben als auf die Ewigkeit zu richten. Manche unter Euch haben ja auch ihre Sterbestunde auf ihrem Zettel erwähnt. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“, das betet alle fleißig. Etliche unter Euch haben auch den Wunsch geäußert, einmal nach Dettelsau und zu Schwestern zu kommen. Denen möchte ich sagen, daß ich gerne bereit bin, soviel an mir liegt, ihnen zur Erfüllung ihres Wunsches zu verhelfen. Es muß nur auch denen, an die Ihr zunächst gewiesen seid, recht sein.

 Laßt mich noch in herzlich guter Meinung ein Wort zu Euch reden.

 1. Vergeudet und vertändelt Eure Zeit nicht. Es ist uns Menschen mit der Zeit ein kostbares Kapital anvertraut. Das muß Zinsen tragen. Kein Tag soll vergehen, an dem man nicht etwas Nützliches getan, womöglich etwas gelernt hat, an dem man nicht im Guten vorwärts gekommen ist.

 2. Haltet mit ängstlicher Sorgfalt über Eurer Keuschheit und jungfräulichen Ehre. Ihr habt unter allen irdischen Gütern nichts Kostbareres als Euren guten Namen und Ruf. Aber wie schnell und leicht ist er geschädigt und damit verloren, was Euer unveräußerlichstes Gut sein soll.

 3. Pflegt keine andere Freundschaft als eine solche, die Euch förderlich sein kann, wo Ihr merkt, daß Euch eine Freundschaft träger zum Guten, williger zum Bösen, gleichgültiger gegen göttliche Dinge macht, da brecht ab.

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/125&oldid=- (Version vom 22.8.2016)