Seite:Therese Stählin - Auf daß sie alle eins seien.pdf/131

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und Liebe zu vergessen, die man den vorausgegangenen Persönlichkeiten schuldet. Ich möchte das insonderheit meiner teuren Genossenschaft als Vermächtnis hinterlassen, was nach vielen bitteren Erfahrungen und schweren Versündigungen unter uns in Zukunft gelten soll. „Bist du für den neuen Rektor oder nicht?“, so hat man ungestraft in den ersten Jahren, da unser seliger Herr Rektor unter uns waltete, gefragt. Schwestern, die absolut nichts verstanden haben von dem, was Herr Pfarrer Löhe gewollt und welch heilige, hohe Ziele er im Auge gehabt hat, warfen sich zu Verteidigerinnen der „guten alten Zeit“ auf, um die Gegenwart in Schatten zu stellen und der leitenden Persönlichkeit ihr Amt zu erschweren. So schlimm war es in der dritten Periode unserer Anstaltsgeschichte nicht mehr. Unser jetziger Herr Rektor wäre auch mit vollem Recht dareingefahren. Aber dennoch mußte ich auch in der neuen Zeit zu meinem tiefen Schmerz das wahrnehmen, daß man die Treue gegen das, was gewesen ist, darin suchte, daß man Vertrauen und Hingabe in der neuen Periode zurückhielt. Meine Anschauung ist die: solange in der Kirche Gottes auf Erden dem Herrn gedient werden soll in stillem Frieden, muß Ordnung sein. Ordnung aber setzt Über- und Unterordnung voraus, und erst wenn die Ordnungen in Kirche, Familie und Staat werden abgetan sein, wird der Antichrist die Basis finden, auf der er sein Reich aufrichten kann. Die leitenden Persönlichkeiten sind freilich sündige, fehlsame Menschen wie alle Sterblichen. Aber für uns haben sie das Besondere vor allen anderen Menschenkindern, daß Gott sie für uns mit einer Würde umkleidet hat, die ein kleiner Strahl und Ausfluß von Seiner selbsteigenen Majestät ist, die ich nicht ungestraft ignorieren darf. Um Seinetwillen, um Gottes willen ehre und liebe ich sie nach Seinem Selbsteignen Gebot und danke für allen Segen, den er mir durch ihre Hände zufließen läßt, wenn Gott Seine Knechte aus der Mühe und Arbeit heimruft, so kann ich ihnen wohl wehmütig nachschauen, aber die fromme, nüchterne Art einer Schwester wird sich doch darin erweisen, daß sie allen empfangenen Segen nun festzuhalten sucht und damit der nachfolgenden Zeit beweist, daß die Arbeit in vergangenen Tagen nicht vergeblich an ihrer Seele gewesen ist, und nun mit ganzer Aufgeschlossenheit der neuen Zeit sich zuwendet.

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/131&oldid=- (Version vom 17.10.2016)