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In Gottes Reich ist kein Stillstand, es ist fortgehende Entwicklung, und neue Zeiten bringen neue Aufgaben, wenn nur alle maßgebenden Persönlichkeiten auf demselben einen Grunde stehen, der Jesus Christus heißt. Ich möchte so gerne, daß Willkürlichkeit und Subjektivität nach und nach unter uns zurücktritt und heilige Zucht und Einfalt die Herrschaft gewinnt. Ach, wir sinds ja nicht wert, daß Gott unser Haus in langen Jahren so unaussprechlich gesegnet hat. Wollen wir uns nicht aufmachen, gemeinsam die Gelübde des Dankes zu bezahlen? Wollen wir nicht immer wieder froh werden, daß wir einem Hause angehören dürfen, das so mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt worden ist und das sonderlich wieder in den letzten Jahren mit einem Strom geistlichen und leiblichen Segens überströmt worden ist?

 Warum schreibe ich nun Dir das alles, liebe Schwester Marie? Es hat gar keinen besonderen Grund. Es ist mir nur jetzt gerade, da ich an Dich schrieb, aus der Seele geflossen, und manchmal ist es mir, als müßte ich doch noch allerlei sagen, ehe eine andere Hand in dieser Stube die Feder führt und eine andere Zeit auch nach dieser Richtung hin kommt. Bitte, grüße die Schwestern, ich wünsche Euch eine gesegnete Festzeit und tiefen Frieden.

Deine alte Freundin Therese.


An Schwester Wilhelmine Kißner.
Neuendettelsau, 27. Dez. 1897

 Meine liebe Schwester, nun hast Du gestern am Grabe Deiner lieben Mutter gestanden. Ich weiß es, was das für ein Weh ist. Man kann sich’s vorher nicht vorstellen, wie das ist. Aber Du wirst es auch erfahren, daß der Himmel ein Stück näher erscheint, wenn wir so unser Liebstes droben wissen. Sei getrost, wir sind ja alle nur Pilgrime und sollen nicht trauern, wenn unsere Lieben vor uns das Ziel erreichen. Und des Todes Schrecken hat Der überwunden, der an Weihnachten gekommen ist. Ich möchte Dir wohl ein Stück mehr von meinem Herzen anbieten, nachdem Du Deine Mutter nicht mehr auf Erden hast. Ich bin wohl arm, aber eine treue Liebe bis ans Ende und eine mütterliche Teilnahme für all Deine Leiden und Freuden sollst Du bei mir finden.

Mit vielen Grüßen an alle Schwestern Deine Therese.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/132&oldid=- (Version vom 17.10.2016)