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An die Schwesternschaft.
Neuendettelsau, 17. Nov. 1899

 Meine lieben Schwestern, ehe das Jahr zu Ende geht und wir eintreten in das zwanzigste Jahrhundert, möchte ich Euch allen noch einen Gruß der Liebe senden und Euch mancherlei erzählen. Wohl könnte das überflüssig erscheinen, und es hat mich auch immer etwas von einem solchen Brief abgehalten, denn das Korrespondenzblatt erhält Euch allezeit im Laufenden über den Gang der Dinge am hiesigen Ort und bietet überdies eine solche Fülle von Anregung und reizt so sehr zu innerer Verarbeitung des Dargebotenen, daß ein Brief aus meiner Feder füglich in der Feder bleiben könnte. Auch wurde durch die zahlreichen Besuche im Laufe des Sommers die Kommunikation zwischen hier und den Außenstationen lebendig erhalten. Doch wünschen manche Schwestern noch allerlei Details, und wir wollen es an nichts fehlen lassen, was etwa zu innigerem Zusammenschluß dienen kann.

 Laßt mich zuerst von dem reden, was seit vorigem Sonntag unsere Seelen tief bewegt: Schwester Emma von Soden in Madras ist am 22. Oktober so schwer erkrankt, daß sie selbst ihr Ende nahe glaubte und Schwester Auguste von Tanjore telegraphisch herbeigerufen wurde. Gott sei Dank ist augenblicklich die Gefahr vorüber und Schwester Emma konnte mit Schwester Auguste nach Tanjore reisen, aber doch wird eine Urlaubszeit in der Heimat unvermeidlich sein. Die liebe Emma schrieb mit Bleistift einen warmen Gruß und bittet in der Meinung, daß sie die geliebte Arbeit bald verlassen müsse, es möchten doch eine oder zwei Schwestern sich finden, die der armen Frauenwelt im Heidenland zu dienen bereit wären.

 Und nun laßt’s Euch gefallen, mit mir einen Gang durch unser Anstaltsgebiet zu machen und dabei einiges von den Ereignissen des Sommers an uns vorüberziehen zu lassen. Wir beginnen mit dem Gottesacker am Westende unserer Kolonie. Ihr wißt die drei frischen Gräber am Wege vor dem Leichenhause. Es hat der Tod im verflossenen Jahre wieder gewaltig ernst an unsere Türen gepocht, und viele unter uns denken bei der Frage, wer die Nächste sein werde: „Herr, bin ich’s?“ Ach, daß der gute Gottesgeist durch unsere Scharen hinziehen möchte und vernichten und töten alles kleinliche Wesen, allen in irdischen Dingen gefangenen Sinn, und uns

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Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/139&oldid=- (Version vom 17.10.2016)