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von irdischen Banden und himmlisch gesinnt werden, wie Er uns haben will. Grüße alle die Schwestern, und sei Du ganz innig gegrüßt von

Deiner Therese.


An Schwester Käthe Hommel im Feierabendhaus.
Kempten, Sonntag Rogate abends 1890

 Liebe Schwester Käthe, ich danke Dir recht schön für Deinen Brief, um den ich recht froh war. Es geht mir gottlob recht gut auf der Reise, nur fühle ich das zunehmende Alter und die abnehmende Elastizität. Man sollte doch bei den Besuchen auch etwas geben können, und ich habe namentlich von dem Memminger Besuch den Eindruck, daß mir’s nicht geschenkt war, das Rechte zu treffen. Die Schwestern waren aber gut, und ich freute mich dort über manches. Ihr müßt aber schon immer recht beten, daß solch eine Reise doch nicht vergeblich sei. Gestern mittag kam ich hieher nach Kempten. Ich machte gleich gestern Besuch bei einer Dame, von der man mir in Memmingen sagte, daß sie gern wegen entlassener weiblicher Sträflinge reden wolle. Dieser Besuch war mir sehr wertvoll. Ihr Mann ist Landgerichtsdirektor, Altkatholik, die Frau voll Interesse und Verständnis für alles, was wir treiben. Sie war heut gleich wieder bei mir und fragte, wie sie es wohl anfangen müsse, um einen Magdalenenverein ins Leben zu rufen. Hier ist seit einiger Zeit eine merkwürdige Bewegung unter den Altkatholiken. Mehrere Übertritte zu unserer Kirche haben stattgefunden, andere stehen noch bevor. Aber wie ist mir mein Herz so weh gewesen heut im Gottesdienst! Den Leuten sollte doch mehr geboten werden. Da wurde zuerst unter all den schönen Liedern, die wir im Gesangbuch haben, das allerwässerigste und ungesalzenste gesungen. Dann stimmte ein Männerchor ein Lied an – ich weiß nicht, was es war, verstand keinen Text, es war, wie wenn der Frühling besungen würde. Dann ging ein Teil der Männer zur Treppe herunter und zur Türe hinaus. Dann sang wieder die Gemeinde: „Jesu, meine Freude“, aber nur einen Vers, dann betrat ein Pfarrer mit Schnurrbart die Kanzel. Der Segen wird vom Altar gesprochen. Von der Predigt konnte man ja schon etwas mitnehmen.

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/58&oldid=- (Version vom 8.8.2016)