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Er hat einen scharfen Blick für die Schäden unter uns, daß ich mich wehren muß gegen falschen Pessimismus. Es regt mich noch alles recht auf; aber ich bin so dankbar; er ist wirklich ein Priester Gottes und kann, wenn’s drauf ankommt, sehr barmherzig und mild urteilen. Er lebt ganz der Sache, gönnt sich bis jetzt gar keine Erholung, arbeitet den ganzen Tag, ist zuweilen atemlos eilig; man hat so ein Gefühl, wie wenn er alle anderen zu Nullen machte. Das beabsichtigt er natürlich nicht, aber es liegt in der Macht und Hoheit seiner Person. Er verkehrt ganz herzlich und freundlich mit den Schwestern, aber zu nah wird ihm nie jemand kommen. Die Rektoratsgeschäfte erledigt er mit einer ungeheuern Promptheit und mit durchdringendem, scharfem Verstand. Er ist der Anschauung, daß vielleicht zu viel Evangelium gepredigt sei und daß er wohl auch mit dem Gesetz einsetzen müsse. Ich kann es alles verstehen, daß Gott es auch so will. Ich fühle mich außerordentlich sympathisch von ihm berührt, habe aber zuweilen ein bedrückendes Gefühl, als müßte ich mich meiner Schwestern ihm gegenüber schämen. Jeden Mittag von 11–12 Uhr ist er bei mir, und die Zeit fliegt nur so dahin. Gestern weihte er das Isolierhaus und setzte die Arbeitsleute in maßloses Erstaunen, weil man seine Stimme so weit, so weit hörte. Er sprach über das Wort: „Und Er nahm ihn von dem Volk besonders.“

 Aber nun zu Deiner Angelegenheit. Ich ließ ihn die betreffende Stelle in Deinem Brief selbst lesen. Da geriet er offenbar in einige Erregung, daß schon wieder eine Schwester beurlaubt sein wolle. Es war sein Ungehaltensein darüber so nachdrücklich, daß ich sagte: „Sie tut es ja nicht, wenn wir es nicht wollen; ich kann ihr ja schreiben, daß Sie es nicht wünschen.“ Da wurde er mild und fragte nach der etwaigen Zeitdauer und sagte, daß er „ungern“ etwas abschlage. – Also siehe, so hast Du mit Bedenken und Klauseln die Erlaubnis! Ich sage: Wenn Du wirklich etwas davon hoffst, dann tu es in Gottes Namen. Überlege Dir’s noch einmal, ob nicht auch jemand anders aus der Verwandtschaft diesen Liebesdienst tun könnte. Ich reise Montagabend nach Kloster Marienberg die Nacht durch, bin, so Gott will, Ende der Woche wieder da. Behüt Dich Gott!

Deine Therese.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/82&oldid=- (Version vom 8.8.2016)