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hingegeben, bei Dir zu sein. Es ist schon gut so. Ich erhole mich hier, soweit es sich nämlich um ein Erholen handelt; denn ich bin ganz gesund und war auch gar nicht sehr angestrengt das letzte Semester, obwohl Herr Pfarrer heute abend, als man mich zur Sekretärin beim Armenverein wählte, meinte, ich hätte schon einen Haufen Titel und Ämter. Bei uns fliegt alles aus. Auch Frau Oberin muß fort. Sie ist sehr leidend. Sie hat Lungenemphysem. Da sind die Luftbläschen der Lunge zu sehr ausgedehnt, die Lunge infolge davon zu groß, das Herz dadurch beengt, und unerträgliche Atmungsbeschwerden werden dadurch erzeugt. Die Nächte sind sehr schlecht. Nur Schlafmittel schaffen etwas Ruhe. Man merkt aber den Tag über gar nichts an Frau Oberin. Sie leitet mit derselben Heiterkeit und Ruhe die ganze Sache...

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 15. November 1864

 Meine liebste Mutter, es kommt mir schon lang vor, daß ich keinen vernünftigen Brief, wie sich’s gehört, an Dich geschrieben habe. Diesmal soll’s wenigstens einigermaßen einer werden, der Dir viel kindliche Liebe und viel Dank aussprechen sollte und das Verlangen, daß Dich Gott mit dem Besten, was er hat, segnen wolle und Deine Lebenstage verklären, daß sie, je näher zum Ziele, desto schöner werden und Du singen mußt: „Ach, denk ich, bist du hier so schön...“ In dem ganzen Jahre hab ich Dich nun nicht gesehen und Du mich nicht. Um so nötiger war mein Geburtstagsgeschenk für Dich. Es hätte mich kein Mensch dazu gebracht, mich photographieren zu lassen, wenn ich nicht Dir einen Wunsch damit erfüllt hätte. Möchte Dich mein Bild zu um so häufigeren und brünstigeren Gebeten reizen, die ich gerade jetzt so sehr bedarf, wo man so viel von mir verlangt, daß es zu meinen Gaben und Anlagen und zu meiner Schwachheit gar nicht passen will. Besonders wenn Du mir eine recht unerschütterliche Seelenstille erbitten wolltest!

 In inniger Liebe

Deine Tochter Theresia.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/145&oldid=- (Version vom 10.11.2016)