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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 27. April 1865

 Liebste Mutter, ...wir haben eine recht schöne Festzeit hinter uns, und jetzt geht erst eigentlich recht das Lernen für dies Semester wieder an. Der Abschied von den vorigen Schülerinnen fiel mir besonders schwer. Es war ein so inniges Zusammenleben. Die drei Gräfinnen brachten auch einen so nobeln Ton in die ganze Klasse. Sie sind nun auch vor ein paar Tagen abgefahren. Ich habe sie so lieb gewonnen. Da lernt man aber Gott danken, daß man nicht auf irdischen Höhen steht, sondern als bescheidene Diakonissin den seligen Pfad eines gottverlobten Lebens ungehindert und unbemerkbar gehen kann. Ich hab’s ihnen wohl gesagt, den Komtessen, wie sie wohl später Dettelsau genieren wird. Das wollten sie gar nicht verstehen...

Deine dankbare Tochter Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, Samstag vor Jubilate 1865

 Meine liebste Mutter, wir freuen uns sehr des schönen Frühlings. Ich bin immer im Frühjahr und Sommer ein ganz anderer Mensch als im Winter. Ich kann es nicht beschreiben, was für eine Sehnsucht in mir die blühenden Bäume und die milden Frühlingslüfte wecken. Es ist mir, wie wenn sich das Elend der Welt und die Frühlingspracht in einem unerträglichen Gegensatz gegenüberstünden, so daß nur ein Gedanke das Gleichgewicht zu halten vermag, der nämlich, daß wir einer schönen Ewigkeit entgegengehen, in der kein solch herber Widerspruch, nichts Wehetuendes überhaupt mehr zu finden ist. Meine liebste Mutter, wann kommst Du denn nun? Doch diesen Sommer noch! – Ich bitte Dich, Du wollest doch einmal eine Zeitlang recht dringend für mich beten, daß ich meinen Beruf treulich erfülle. Ich bin durch viele Arbeit weit weniger angegriffen als durch das beständige Gefühl der Unzulänglichkeit und Unfähigkeit meiner Kräfte und Gaben. Dies Gefühl beruht auch nicht nur in meiner Einbildung, sondern es ist ganz richtig und soll nur vor dem Übermaß seines Einflusses auf mein Gemüt durch ein rechtes Gottvertrauen bewahrt werden.

 ...Frau Oberin ist recht viel unwohl. Herr Pfarrer wird nächsten Mittwoch, so Gott will, wieder zurückkommen. Er

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/152&oldid=- (Version vom 10.11.2016)