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muß doch ein jeder Mensch ohne Ausnahme in die Erfahrung der Bitterkeit und Nöte dieses Lebens hinein. Ich will mich auch bereiten, stille und gelassen zu werden bei allem, was da kommt. – Noch ist’s jetzt recht schön bei uns. „Deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott“, die sind meine Zuflucht und mein Bergungsort und sollens allewege bleiben. Jetzt werden mir die Psalmen so lieb, besonders der 46....

 Gegenwärtig ist Deine Doppelgängerin hier, Frau Professor Lichtenberg. Sie zieht mit ihrem Manne ganz hieher. Der geht unter schwerem Leiden dem Tode entgegen.

 Gott behüte Dich, meine liebste Mutter!

Deine Therese.


An die Mutter.
Polsingen, den 18. Juli 1866

 Meine liebste Mutter, ich bin hier im schönen Schlosse Polsingen und genieße mit vollen Zügen meine Ruhe und Freiheit, die mir hier gegönnt ist. Vorigen Sonntag fuhr ich mit Herrn Löhe hieher. Die Fahrt war wunderschön, besonders die abendlichen Stunden. O, es ist so schön hier! Ich bin aber fein nicht leidend, liebste Mutter, nur ein wenig matt und müde, so daß Herr Pfarrer meinte, ich könne meine Sachen nicht ordentlich tun. Er schlug mir daher öfters vor, hieher zu gehen und ein wenig auszuruhen. Ich meinte aber, ich könne es schon bis Semesterschluß aushalten. Am vorigen Freitag abend aber erteilte mir Herr Pfarrer ganz als Rektor bestimmten Befehl, am Sonntag mit einem Mann, der Ferdinand Löhe heiße, nach Polsingen zu fahren. Ich wußte nun, daß ich nun ganz einfach zu gehorchen hatte, und das hob mich über alle sonstigen Bedenken weg. Nächsten Dienstag, so Gott will, fahre ich wieder heim; denn da geht Herr Löhe zu seines Bruders Gottfried Hochzeit. ...Vorigen Donnerstag wurde Herrn Pfarrers erster Enkel getauft.

 Ich möchte Dich gerne sehen, bin Dir so nahe, nur eine halbe Stunde. Aber nur hin- und herfahren, das ist ein aufregendes Wiedersehen, und meinen Aufenthalt teilen, das wage ich nicht ohne Erlaubnis von Dettelsau. Gerne zeigte ich mich Dir, damit Du keine Sorge um mich habest. Herr Pfarrer meinte neulich auch, er wolle mich eine Zeitlang nicht lehren lassen. Und das wäre mir ganz recht. Vielleicht darf

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/160&oldid=- (Version vom 10.11.2016)