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Briefe von 1855–1857


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 1. November 1855

 Inniggeliebte Schwester, nur einige Zeilen will ich Dir in aller Eile schreiben und die Gelegenheit, die sich mir durch Madame Laible bietet, ausnützen. Natürlich kann ich Dir noch gar nicht viel schreiben, da ich erst zwei Tage hier bin und die Stunden noch nicht begonnen haben.

 Ich bin vorigen Montag mit Johanna Zwanziger von Weiltingen abgereist, bis Kleinried gefahren und von da noch vier Stunden nach Ansbach gegangen. Dort blieben wir bei Frau Magister Beck, einer sehr lieben Bekannten von Johanna, über Nacht und machten am folgenden Tage einige Gänge, unter anderm auch ins Alumneum, da Johanna dorthin einen Auftrag hatte. Man war dort gegen die Schwester des „fleißigen Ludwig Stählin“ sehr freundlich. Ich ließ mir das Bett, in dem unser seliger Bruder geschlafen, zeigen, sowie das Pult, an dem er so viel gearbeitet. Nachmittags fuhren wir nach Schlauersbach, eine Stunde von Neuendettelsau, und kamen hier ziemlich spät an. Schon in Ansbach traf uns wie ein Donnerschlag die Nachricht, daß unser Herr Pfarrer krank liege. Es geht – gottlob! – schon wieder besser, so daß gegründete Hoffnung vorhanden ist, ihn nächsten Montag unter uns zu sehen.


Samstag, den 3. November

 Nun fange ich das dritte Mal an, an diesem Briefe zu schreiben, und wer weiß, ob ich nicht wieder unterbrochen werde; denn bald mahnt die Hausglocke zu augenblicklichem Erscheinen im Betsaal, Lehrzimmer, Speisezimmer etc., bald gibt es eine sonstige Unterbrechung, die einem das Sitzenbleiben verbietet.

 Ich bin seit gestern Abend viel freudiger gestimmt als am Anfang, wo sich das Heimweh (ich schäme mich nicht, es zu gestehen) sehr heftig einstellte. Gestern haben die Stunden begonnen, d. h. wir hatten ärztlichen Unterricht von Herrn Dr. Schilffarth und Singstunde von Herrn Kantor Güttler, der ein höchst komischer, aber äußerst liebenswürdiger Mann

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/21&oldid=- (Version vom 17.10.2016)