Seite:Therese Stählin - Meine Seele erhebet den Herrn.pdf/218

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mit und ein Herr von Zangen und die Oberhofmeisterin Gräfin von der Mühlen. Wir waren alle vor dem Haus versammelt, und ein unbeschreibliches Gefühl von Freude und Ehrfurcht durchbebte doch meine Seele, als wirklich die königlichen Wagen anfuhren, die hohen Damen ausstiegen und wir unter Posaunenbegleitung anstimmten: „Nun danket all und bringet Ehr...“ Herr Rektor hieß dann die Herrschaften mit herzlichen Worten willkommen und geleitete sie ins Haus. Sie tranken Kaffee. (Der Lakai zeigte einer Schwester genau, wie die Butterbrötchen gestrichen sein müssen.) Die Königin sah sich dann alles ganz genau an, sprach mit den Einzelnen, auch mit ein paar blöden Mädchen, die sie mit „Sie“ anredete. Es war ein offenbares warmes Interesse bei ihr für alles, was sie sah und hörte. Abends ging sie in den Gottesdienst. Die Einzelheiten sage ich Dir, wenn ich zu Dir komme. Es wurde natürlich viel gesungen, und die Bauern waren auch lebendig und riefen ein ums andere Mal ein „Hoch!“ – Ein Geschenk von 1000 fl. hat sie uns zurückgelassen. Es ist doch etwas Schönes, wenn tief im Herzen solch eine Ehrfurcht vor der Majestät ist. Ich hab das nie so empfunden wie an jenem Tage, obwohl ich vor lauter Verlegenheit keinen Knix gemacht, als die Königin einige Worte mit mir sprach. Sie hat die Frau Oberin beim Kommen und Gehen geküßt und war überaus einfach und herzlich.

 Übermorgen sind’s 365 Tage, daß Gott es entschieden hat, daß wir unsern lieben Herrn Rektor haben. Gott sei tausendmal gelobt!...

 In herzlicher Liebe

Deine dankbare Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 28. Januar 1874

 Meine liebste Mutter, ...ich fahre nächsten Sonntag in höchster Gesellschaft über Ansbach nach Polsingen. Herr Rektor und Frau Oberin visitieren, und Herr Rektor ist so überaus gütig, daß er mir befohlen hat mitzugehen. Er ließ die Bedenken, die ich meiner Schule wegen habe, nicht gelten, sondern erinnerte mich an meinen Handschlag des Gehorsams bei seinem Amtsantritt. Nun es ist ja freilich kein schwerer Gehorsam, wenn nicht eben gerade die Güte, die man von

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/218&oldid=- (Version vom 20.11.2016)