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ist. Ich sagte ihm gleich zum Anfang, daß ich keine Stimme zum Singen habe, worauf er erwiderte: „Nu, warten’s ner, und lassen’s mich das sagen, wenn S’ amal drei Jahr bei mir g’sungen haben.“ Bei Tisch fragte mich Fräulein Rehm, ob ich nicht Lust hätte, der Fräulein Rheineck (einer Schwester der verstorbenen ersten Vorsteherin) in der Nähstunde zu helfen, da sie allein mit so vielen Mädchen nicht zurecht kommen könne. Ich faßte Mut und willigte ein, denn ich kann die Arbeiten doch wenigstens zeigen, wenn die andern sie auch schöner machen können. Von 4 bis 6 Uhr hatten wir deutsche Sprachstunde von Emma Linß. Das ist ein Gegenstand, über den viel gejammert wird. Doch ich habe ganz vergessen, was vorgestern als am 1. November Wichtiges geschehen ist: da wurde der Kurs feierlich eröffnet von Herrn Inspektor Bauer und dann die sämtliche Schülerzahl, ja das ganze Hauspersonal von Fräulein Rehm an bis zu der Kleinsten der Kinderschule in Riegen (d. h. Reihen) geteilt und für je 6–10 Mädchen Riegenmeisterinnen gewählt. Diese haben die Pflicht, ihre Riegenkinder auf ihre Fehler aufmerksam zu machen und, wenn es nötig ist, mit dem Herrn Pfarrer darüber zu sprechen.

 Was das Aufstehen betrifft, so habe ich in dieser Beziehung mit keinen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Gegenteil, ich wache oft viel eher auf, als ich geweckt werde. Auch unser Schlaflokal (die Böden) haben gar nichts Abschreckendes.

 Morgens nach dem Gebet und Frühstück, das (ich muß doch alles sagen) aus Milch und Brot besteht, haben wir eine halbe Stunde für uns. Ach, das sind schöne halbe Stündchen! Da gedenke ich meiner Lieben nah und fern, schütte mein ganzes Herz vor meinem süßen Heiland aus und lese dann mit Johanna Zwanziger ein Kapitel aus der Offenbarung Johannes nebst einer dazu gehörigen Erläuterung. Ach, wie lieb ist mir Johanna nun geworden! Mit wahrhaft schwesterlicher Liebe macht sie mich auf alles aufmerksam, was eine Neueintretende zu beachten hat. Außerdem habe ich schon mehrere Mädchen außerordentlich lieb gewonnen, besonders Elise Pächtner, eine Cousine von Hausers, und Wilhelmine von Tucher, ein wirklich herrliches Mädchen. Sie ist nun mit drei Schwestern hier... Die Klavierstunden werde ich mit Eurer Einwilligung nicht nehmen, da die Stunde, glaube ich,

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/22&oldid=- (Version vom 17.10.2016)