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Tannen und schattigen Buchen. „Das Gedächtnis des Gerechten bleibet im Segen“ – das Wort soll doch wahr bleiben auch in Bezug auf unseren Herrn Pfarrer, und all das Gute, das er uns getan, soll ein Geschlecht dem andern sagen, bis auch für unsere Anstalten einmal die Zeit vorüber sein wird. Es ist doch eine ganz besondere Welt, die Blödenwelt, und man kann so mitten unter Blöden, Geisteskranken, Epileptischen, Stummen usw. so recht einen Eindruck bekommen von dem Kampf der guten und bösen Geister, von dem wir ja überhaupt mehr umgeben sind, als wir zu bedenken pflegen.

 Denke nur, was wir noch für eine besondere Freude hatten: Herr Rektor schrieb uns einen Brief von Düsseldorf aus, einen so treuen, väterlichen Brief. Was ist doch das für eine Güte – mitten in der Unruhe der Reise, bloß um jemand eine Freude zu machen, eine besondere Zeit auf einen Brief wenden. Gottlob sind auch beide, Herr Rektor und Frau Oberin, ganz wohlbehalten von ihrer großen, weiten Reise zurückgekommen. Es hat ihnen sehr wohl in Kaiserswerth gefallen, und das Ganze muß wohl noch interessanter gewesen sein als damals vor zehn Jahren. Die eingehende Erzählung empfangen wir aber erst am Schwesterntag...

 Marie schläft bei mir im Stüblein und soll sich diesmal recht ausruhen. So schön kann ich ihr’s freilich nicht machen, wie sie mir. Aber wir durften auch schon manche Liebe erfahren. Die Liebe macht doch das Leben golden. Ach, wenn ich lieben könnte, so recht aus tiefster Seele! Es war so feierlich und schön, als am Samstagabend Herr Rektor den ersten Abendgottesdienst hielt und uns grüßte und segnete und mit großem Ernst uns das Wort in die Seele legte: „Kindlein, liebet euch unter einander!“

 Während der Abwesenheit unserer Vorstände ist unser Bauwart vom Gerüst heruntergestürzt, das an der Blödenanstalt einer Reparatur wegen aufgerichtet war. Gottlob hat er sich keinen besondern Schaden getan. Auch wurde in einer Nacht die Mutter von unserm Herrn Rektor todkrank, und es war ihr ein tiefes Leid, daß sie nun doch ohne „ihren Sohn, ihren lieben Sohn“ sollte sterben müssen. Doch setzte sie ihren Gebeten mit Ergebenheit hinzu: „Herr, wie du

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/227&oldid=- (Version vom 20.11.2016)