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bei Herrn Inspektor Bauer lesen. Wie freue ich mich darauf! Von nächster Woche an wird uns Herr Pfarrer Unterricht in der Kunstgeschichte geben, aber nur uns künftigen Lehrerinnen. Von 5–6 Uhr hat das ganze Haus Sprachstunde. Ich habe einem Kurs französischen Unterricht zu erteilen. Nach dem Abendessen werden immer Sprüche und Lieder gelernt, dann das aufgegebene Pensum in der Bibel gelesen. Um 10 Uhr versammelt man sich nochmals im Betsaal, und dann gehen wir in unsere Schlafsäle. Nicht jeden Tag jedoch greifen die Stunden so ineinander wie am Freitag. Dienstag z. B. wird gewaschen, Donnerstag gebügelt, Samstag geputzt etc. Von nächster Woche an soll Unterricht im Zeichnen gegeben werden. Ein Künstler aus Nürnberg will sich hier niederlassen und diesen übernehmen. Doch müssen die Stunden natürlich besonders bezahlt werden... Herr Pfarrer hält sehr viel auf das Zeichnen, er stellt es weit über das Klavierspielen, und ich selber habe sehr große Lust, es zu lernen.

 ...Gedenke in Deinem Gebet Deiner treuen Schwester

Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 20. Dezember 1855

 Meine liebe, gute Mutter, es scheint mir eine lange Zeit vergangen zu sein, seitdem ich das letztemal geschrieben habe. Der Grund davon liegt aber keineswegs in der Langeweile, die ich hier habe (denn das Ding kennt man hier gar nicht), sondern in den großen Veränderungen, die in dieser Zwischenzeit in unserer Familie vorgefallen. Sie, liebe Mutter, haben mit den Schwestern die alte Heimat verlassen, um in Nördlingen eine neue zu suchen. Ich habe Sie mit meinen Gebeten begleitet und bin gewiß, daß der Herr mich erhören wird.

 Durch Adolf habe ich von seiner Verlobung erfahren. Ich eilte mit dem Brief voll Freude zu Johanna (leider muß ich sagen: an ihr Krankenbett) und stimmte mit ihr ein herzliches Loblied an. Ach, das war eine selige Viertelstunde, die ich da betend und dankend mit ihr zubrachte! Überhaupt sind das wahre Erquickungsstunden, die ich manchmal bei ihr oder bei ihr verwandten Seelen zubringe. Es ist etwas unbeschreiblich

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/31&oldid=- (Version vom 17.10.2016)