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„Wen meinen Sie?“ fragte Herr Pfarrer. „Ja, die Therese Stählin bekommt die meisten Briefe in der Anstalt.“ Doch hat weder Herr Pfarrer noch Fräulein Rehm dabei einen ungünstigen Ton angenommen; denn man weiß ja, daß ich aus einer großen Familie bin, und ich bitte daher, mir deshalb ja keine Zeile zu entziehen; denn es ist mir immer eine gar große Freude, Briefe von den fernen Lieben erbrechen zu dürfen...

 Lassen Sie mich wieder von meiner lieben Anstalt reden oder vielmehr, so unbescheiden es auch lautet, von mir. Daß doch der Mensch so gern von sich selbst spricht! Doch ich wills ja nur tun, um Gottes große Gnade zu rühmen, die ich täglich, ja stündlich zu erfahren habe. Billig sollte mein Herz stets voll Loben und Danken sein; denn es ist ja auch Gnade von Gott, wenn er mich demütigt, wenn er mir meine Sünden zeigt und mich fühlen läßt, daß außer Ihm keine wahre Freude ist. O das muß ich gar oft empfinden! Wenn ich mich den Tag über recht zerstreut, mich ganz in mein Lernen vertieft und darinnen meine Lust gesucht, dann tritt des Abends oft eine Leere des Herzens ein, die nur durch ein herzliches Gebet wieder verscheucht werden kann. – Diese Woche ist eine heilige Woche für mich, denn nächsten Sonntag denke ich zum heiligen Abendmahl zu gehen. Ach, ich meine immer, ich habe nicht die rechte Buße, und das macht mich zuweilen recht traurig. Doch hat mir Herr Pfarrer neulich die tröstlichen Worte unter einen Satz, den ich über die Buße gemacht, geschrieben: „Wenn nun aber die Seele nichts fühlt, als daß sie nicht fühlt, wie sie soll, ist das keine Buße?“ Das macht mich wieder getrost und ruhig.

 In der letzten Zeit hat sich ein Geist der Unordnung in unser Haus geschlichen. Herr Pfarrer hat eine ernste, sehr ernste Seelsorgerstunde gehalten, uns seine ganz unbegreifliche Beobachtungsgabe an den Tag gelegt, indem er uns mit den eingreifendsten Worten alles rund heraus gesagt, was er bemerkt. Die Frucht dieser Stunde war, daß sich ein Verein für Ordnung gebildet. Johanna ist die mutige Anführerin, und ich bin auch unter der Zahl dieser Freiwilligen. Sie lachen vielleicht darüber, allein Sie dürfen überzeugt sein, daß es in Beziehung auf Ordnung schon um vieles anders geworden

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/37&oldid=- (Version vom 17.10.2016)