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An ihre Mutter.
Neuendettelsau, den 15. März 1856

 Herzlich geliebte Mutter, Gnade und Friede sei mit Ihnen!

 ...Nicht wahr, Sie kommen?!! Es wäre vielleicht auch deshalb gut, daß Sie, liebe Mutter, einmal ordentlich mit Herrn Pfarrer meinethalben reden könnten, obgleich es nicht mehr sehr nötig sein wird, da Sie doch einmal Ihre völlige Einwilligung dazu gegeben haben, daß ich Diakonissin werde, und deshalb Herr Pfarrer mit mir tun kann, was er will. Ich darf wahrscheinlich als Lehrerin an unserer Kleinen Schule im Hause bleiben. Da ist mir dann das Los aufs Liebliche gefallen; denn das bißchen, was man selber hat, andern geben dürfen, indem man so reiche Fülle wieder empfängt, das ist ein süßes Los. Ich erkenne mich auch völlig unwürdig solch großer Gnade meines Gottes. Gnade, nichts als Gnade ist es, die mich von Kindesbeinen an geführt und immerzu gezogen und geklopft an mir und gerüttelt, ob ich mich doch endlich wollte willenlos hingeben in die durchbohrten Hände meines Heilandes.

 Diese Gnade tritt uns noch mehr als sonst in dieser Passionszeit nahe. Könnten wir uns da nur recht tief hineindenken in die heilige Passion unseres Herrn Jesu Christi: Aber geht es Ihnen dann auch so wie mir, daß das Herz bei der Betrachtung seiner Leiden so kalt bleibt? Wir haben gerade in dieser Zeit wieder reichen Genuß. Die Passionspredigten sind ganz unvergleichlich. Mittwoch ist das Thema der Predigt immer eine Charakterschilderung einer der im Leiden Christi vorkommenden Personen, Freitag aber ist es die eigentliche Betrachtung der Leiden, wozu die sieben letzten Worte den Stoff bieten.

 Was den gegenwärtigen Unterricht im Haus anlangt, so verhält er sich zu all dem, was in diesem Semester gelehrt worden ist, wie eine Krone zum Perlenkranz; denn denken Sie, unser lieber Herr Pfarrer liest mit uns die Offenbarung St. Johannis. Was das für herrliche Stunden sind, wenn wir da sitzen vor unserer aufgeschlagenen Offenbarung und lauschen den Worten unseres verehrten Lehrers, der uns die Augen über dies Buch öffnet, ohne jedoch erklären und deuten zu wollen, das kann ich Ihnen nicht sagen. Gestern begeisterte

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/42&oldid=- (Version vom 17.10.2016)