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ich auch die Wochenpredigten nachgeschrieben. So etwas Herrliches habe ich noch nicht gehört. Herr Pfarrer liest da mit uns den Jakobibrief und gibt uns in der Auslegung desselben unschätzbare „Almosen“ für unser ganzes Leben.

 ...Ich bin recht froh, daß die vergangene Woche hinter mir liegt, denn da waren fast alle Tage Prüfungen. Die letzte war die der Mädchenschule, wo ich selbst examieren mußte. Gleich am folgenden Tag wurde die Anordnung des nächsten Kursus besprochen. Ich habe bedeutend mehr zu tun bekommen: ich soll außer den Stunden bei den Kindern auch den Unterricht der deutschen Sprache und der in dieses Fach einschlagenden Gegenstände bei den Diakonissen übernehmen und die Repetentin Herrn Pfarrers in allen sprachlichen Gegenständen werden. „Weil sie so groß ist, hat man sie dazu gewählt“, sagte letzthin Herr Pfarrer zu einem Fremden.

 Ach, liebste Mutter, ich bin so selig und fröhlich in der letzten Zeit, daß ich nichts mehr wünsche, als allen, die ich liebe, meine innere Seligkeit mitteilen zu können. „Es ist eitel Unglauben“, sagte Herr Pfarrer in der gestrigen herrlichen Predigt, „wenn du traurig bist, es ist eitel Anfechtung, wenn du dir die Hände binden lässest von der Macht der Betrübnis, da doch der König des Lichtes, da doch Christus, dein Freudenmeister, über dir steht.“ – Ich mache es unserm seligen Ludwig nach und gehe alle Tage ein wenig hinaus nach Tisch, um Lieder zu lernen und die geistliche Übung, die heilige Ascetik, wie Herr Pfarrer in einer Predigt dies genannt, zu gebrauchen. O das sind herrliche Viertelstunden, die Segen über den ganzen Tag verbreiten.

 Herzliche Grüße von meiner lieben, guten Johanna. Ach, was fange ich an, wenn die nicht mehr hier ist! So kann einem selten jemand die Wahrheit sagen wie sie.

Ihre dankbare Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 17. Juni 1856

 Liebste, teuerste Mutter, ...gestern war die Leichenfeier eines elfjährigen Kindes, in dem sich die zarten Keime eines Glaubenslebens, die gewiß dort zu herrlichen Blüten und

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/45&oldid=- (Version vom 17.10.2016)