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 Die heilige Passionswoche ist nun vorüber, und schon ist der zweite Ostertag da. Möge Segen triefen in unser aller Herzen von der schönen heiligen Festzeit. Wir haben seit vorigen Dienstag alle Tage Predigt, mehreremal täglich zweimal. Solch ein Gedränge in unserm Kirchlein habe ich noch nicht gesehen wie in diesen Tagen. Das ganze Dorf ist voll. Die Leute müssen auf Stroh schlafen.

 Nun haben wir noch drei Wochen Ferien. Obwohl ich viel zu tun habe, wird mir doch die Zeit schrecklich lang vorkommen, um so mehr als unser Haus ziemlich leer wird...

Ihre dankbare Therese.


An ihre Schwester Auguste.
Neuendettelsau, den 17. Juli 1857

 Meine herzlich geliebte Auguste, Friede sei mit Dir! ...Wie sehr ich Dich gestern hieher gewünscht habe, kann ich gar nicht sagen. Hättest Du nur diese Stunde mit anhören können! (Verzeih, daß ich sogleich ohne allen Übergang anfange also zu reden.) Wir haben nämlich gestern einen neuen Unterrichtsgegenstand begonnen, und die noch übrigen drei Monate dieses Semesters sollen zu geschichtlichen Sachen, zu Bibel- und Kirchengeschichte verwendet werden. So fing denn Herr Pfarrer gestern die Schöpfungsgeschichte an auszulegen; doch darf ich eigentlich nicht so sagen, denn Herr Pfarrer spricht: „Ich lege nichts aus, ich weiß ja nichts, sondern ich bemerke bloß.“ Wir haben da auch Gelegenheit gehabt zu sehen, wie Herr Pfarrer selber immer vorwärts schreitet in der Schrifterkenntnis usw. Denn so herrlich die Stunde war, der ich vor zwei Jahren beiwohnte, als das 1. Kapitel des 1. Buches Mose gelesen wurde, so war doch die gestrige noch weit erhabener, tiefer und eingehender. Man wurde ganz hingerissen, hineingezogen in dies Schauerliche, das dieses Kapitel bietet. Gedanken wurden hervorgerufen, die einem noch nie gekommen sind, obwohl sie sich eigentlich von selber verstehen. Dazu sagt uns Herr Pfarrer einzelne Worte im Grundtext, die da oft eine viel schönere, tiefere Bedeutung haben als in der manchmal fehlerhaften Übersetzung. „Hiebei mögen Sie erwarmen für Ihr Bibellesen“, sagte Herr Pfarrer am Schluß der Stunde. In der Tat muß ich auch gestehen, daß ich kaum

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/67&oldid=- (Version vom 24.10.2016)