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 Was mir den Aufenthalt hier auch durch irdische, rein menschliche Freude verzuckert, das ist die Gegenwart unserer Marie, die heute früh ihre Aufnahmeprüfung zu bestehen hatte, derzufolge sie in die zweite, das ist in diejenige Klasse eingetreten ist, deren Klassenlehrerin ich bin. Sie antwortete sehr naiv und veranlaßte dazwischen das ganze Kollegium zu einstimmigem Gelächter, wenn sie mir z. B. zum Exempel eines einfachen Satzes mit einem Objekt die Worte erwiderte: „Ich liebe dich“, oder als sie das Merkwürdige, was uns von den Patriarchen im 5. Kapitel des 1. Buches Mose erzählt ist, anführen sollte, schnell bei der Hand war mit der Antwort: „Sie zeugeten Söhne und Töchter – und starben.“

 Ihr Heimweh ist nach ihrem eigenen Urteil, das sie Herrn Pfarrer auf sein Befragen gab, nicht sehr arg und wird ohne Zweifel in dem Maße ganz verschwinden, in welchem sie die Ermahnung von Herrn Pfarrer befolgt: „Lern nur recht fleißig“; denn dann hat sie keine Zeit dazu. Als Herr Pfarrer sie gestern dem Herrn Konsistorialrat Ranke, der zur Kirchenvisitation hier war, vorstellen wollte, sagte er: „Die ist gezeichnet, das ist eine Stählin.“ Herr Konsistorialrat war dann sehr freundlich gegen uns, trug mir Grüße an Otto, Adolf und Mutter auf, welch letztere er eigens einmal habe kennen lernen wollen, weshalb er in Weiltingen habe halten lassen, weil sie die Muter so vortrefflicher Söhne sei; „denn die“, sagte er zu Herrn Pfarrer, „hat uns Kandidaten geliefert, wie’s kaum mehr gibt im Lande.“ Herr Pfarrer wandte sich dann zu mir und sagte: „Das reizt zur Nacheiferung. Soll ich nun in die Posaune blasen und auch Dein Lob anstimmen?“

 Bei Gelegenheit des erwähnten hohen Besuches konnte natürlich die Besprechung der letzten großen Bewegungen von wegen der Salbung nach Jak. 5 nicht umgangen werden... Herr Pfarrer erklärte sich bereit, öffentlich anzuzeigen, daß er in diesem Punkte mit dem Oberkonsistorium nicht einig wäre, da nämlich Herr Konsistorialrat seinen Kummer darüber aussprach, daß so viele nun plötzlich ausbrächen in Vorwürfe über Katholisierung etc. – Wunderbar müßte meiner Meinung nach es den Gegnern doch auch vorkommen, daß nun Fräulein von Grünwald, die die Salbung im Glauben begehrte, wieder gehen kann, was ihr vorher trotz Anwendung aller ärztlichen

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/80&oldid=- (Version vom 24.10.2016)