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Herzen der Jungfräulein; denn Herr Pfarrer sieht, wie er sagt, in den Aufsätzen, wie sie leiben und leben. Gestern tadelte er zwei wegen ihrer Sentimentalität, und unter denen war Marie. „Das muß weg, Kind“, sagte er zu ihr, „es paßt auch gar nicht zu dir; du hast einen kräftigen Charakter, da mußt du dich nicht mit solchen Dingen einlassen.“ Ebenso tadelte er den unnatürlichen Druck in ihrer Handschrift und mahnte durch eine Bemerkung unter der Arbeit zu Einfalt und Wahrheit. Einfalt sei die rechte Vornehmheit. – Du darfst Dein jüngstes Kind recht glücklich preisen.

 ...Meine geliebtesten Stunden die Woche über sind Donnerstag und Samstag von 6–7, wo Herr Pfarrer Unterricht über Psychologie gibt. Nein, so etwas hab ich noch nicht gehört! Wir stehen jetzt bei der Dreiteiligkeit und Zweiteiligkeit des Menschen, haben die Stellen angeschaut, wo es heißt: Leib und Seele, und wo es heißt: Leib, Seele und Geist.

 Heute gehört meine freie Zeit noch einem nötigen Brief und der Weiterführung einer akademischen Aufgabe, die ich bekommen: die Geschichte der Bibel.

Deine treue Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 23. Juni 1859

 Liebstes Mutterle, ich habe Dir eine Botschaft zu bringen, eine freudige wie immer. Vielleicht ist ihr Schall schon zu Dir gedrungen: Nächste Woche, so Gott will und wir leben, so uns der Himmel gütig zulächelt und nicht ein trübes, tränenreiches Gesicht macht, so Du, teure Mutter wieder in Eichstätt bist, so mit einem Wort, unser Plan hinausgeht,... sehen wir uns! Ist das nicht herrlich, wunderschön, ganz vortrefflich? Ja, der Herr Pfarrer hat halt doch ein wenig ein väterliches Herz gegen uns, wenn er uns gleich mit so harten Worten entlassen hat.

 Nun will ich aber hübsch ordentlich nacheinander her erzählen, was ich eigentlich will. Diese einleitenden Sätze sollen nur den Freudensprung fürstellen, den ich Dir gar zu gerne vorgemacht hätte. Herr Pfarrer Wilhelm Löhe gab dieses Semester, wie Tochter Marie wohl berichtet haben wird, Lektionen über Missionsgeographie. Vor seiner Abreise schloß

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/98&oldid=- (Version vom 10.11.2016)