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Ludwig Tieck: Das jüngste Gericht. In: Poetisches Journal, S. 221–246

und stiegen weitelaufend die Adern der Natur hinauf und hinab, die Bäume knospeten und blühten, und augenblicks quollen die Früchte hervor, sie fielen vom Stamme nieder und das Laub verwelkte, worauf ein rascher Frühling sie wieder dehnte und in ihnen trieb, und so jagten sich Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die Ströme rissen und waren von augenblicklichen Eise gehemmt, worauf die stürzende Woge wieder lebendig wurde. So ängstigte und erhitzte sich die Natur in sich selber, und endlich sprang die Knospe der Zeit und gab die eingefesselte Ewigkeit mit einem gewaltigen Klange frei, das verhüllte Feuer brach aus allem Irdischen hervor und das ewige uralte Element des Lichtes herrschte wieder über der Tiefe, und alle Geister rannen in Einen Geist zusammen.

Nun schwangen sich die leichten fließenden Ströme in schönen Bildern hinunter, die Gewässer ein leuchtender Krystall, die Blumen durchsichtig, die Gräser leise grüne Flammen; auf der Oberfläche der Erde schwammen die Edelgesteine und das Gold jubilirend, die Sonne schaute sie frölich an und hatte sich wieder auf ihre vergessenen Strahlen besonnen, die in der Schöpfung sich in die tiefen Schachten verirrt hatten. Alle Töne wurden Musik

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Ludwig Tieck: Das jüngste Gericht. In: Poetisches Journal, S. 221–246. Frommann, Jena 1800, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tieck_Das_juengste_Gericht_1800.pdf/7&oldid=- (Version vom 22.12.2016)