Seite:Tille Das čechoslavische Märchen.djvu/8

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

von einigen aus den letzten Jahren nur äusserst wenig wirklich verlässliches, wissenschaftlich und kritisch aus dem Volksmunde gesammeltes Material zurückbleiben. Es ist eben an der Zeit, eine allgemeine Revision des bereits Vorhandenen vorzunehmen. Obwohl dieselbe, wie ich fest überzeugt bin, in mancher Beziehung zu recht verblüffenden Resultaten führen wird, braucht man dennoch an der gesamten auf dem Gebiete der prosaischen Volksliteratur geleisteten Arbeit des 19. Jahrhunderts nicht zu verzweifeln. Es handelt sich lediglich um eine kritische und tiefere Beleuchtung desjenigen Materiales, welches bis jetzt häufig noch als etwas Dokumentarisches ohne jeden Zweifel angenommen wurde. Die historische Wissenschaft mit ihrer gesunden Skepsis und genauen Dokumentenkritik und Quellenforschung muss für die gründliche Revision als Vorbild dienen.

Würde man das in den čechoslavischen Märchensammlungen aufgehäufte Material eingehend auf seinen Ursprung prüfen, seine literarischen und sonstigen Quellen kritisch beleuchten und sorgfältig das wirklich Gesammelte von dem Erdachten und Abgeschriebenen trennen, so könnte man der europäischen vergleichenden Literaturgeschichte, soweit sich dieselbe mit der Volksprosa befasst, gewiss viel brauchbares und wertvolles Material liefern und gleichzeitig dem drohenden Übel vorbeugen, dass zu wissenschaftlichen Zwecken gar nicht bestimmte Werke die ausländische Forschung irreführen.

Nur Eins könnte man mit Recht den Forschern auf dem Gebiete der čechoslavischen Prosa vorwerfen: dass sie in der letzten Zeit, während in ganz Europa neues Material kritisch gesammelt wird, hinter den allgemeinen Bestrebungen zurückgeblieben sind, indem zwar für das Volkslied ziemlich viel geleistet wurde, die volkstümliche Prosa jedoch grösstenteils unberücksichtigt blieb. Es wäre wirklich an der Zeit diesem Mangel baldigst abzuhelfen und die so tiefergreifende und feinfühlige wie kernig derbe, groteske Erzählungskunst der čechoslavischen Märchenerzähler – deren man auch heutzutage eine beträchtliche Anzahl im Volke finden würde – in klarer, wahrheitsgetreuer Darstellung der Nachwelt zu überliefern.

Empfohlene Zitierweise:
Václav Tille: Das čechoslavische Märchen. Crosman & Svoboda, Prag 1907, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tille_Das_%C4%8Dechoslavische_M%C3%A4rchen.djvu/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)