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4. Die Liebe ist entstanden.

Liebe ist die Freude, ein liebenswertes und liebendes Wesen mit allen Sinnen und in nächster Nähe zu sehen, zu berühren und zu fühlen.

5. Es beginnt die erste Kristallbildung.

Wir haben Gefallen daran, eine Frau, deren Liebe wir sicher sind, mit tausend Vorzügen auszuschmücken und uns unser Glück selbstgefällig bis in alle Einzelheiten auszumalen. Mit anderen Worten, wir überschätzen ein kostbares unbekanntes Geschenk, das uns der Himmel gerade in den Schoß geworfen hat, und betrachten es als unser sicheres Eigentum.

Beobachten wir einmal, was innerhalb von vierundzwanzig Stunden im Kopf und Herzen eines Liebenden vorgeht.

Wenn wir in den Salzbergwerken bei Salzburg in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig werfen und ihn nach einigen Monaten wieder hervorziehen, so ist er über und über mit glitzernden Kristallen bedeckt. Selbst die kleinsten Ästchen, die kaum größer sind, als die Krallen einer Meise, sind mit unzähligen hellfunkelnden Diamanten besät, so daß man den kahlen Zweig nicht wiedererkennt.

In diesem Sinne nenne ich Kristallbildung die Tätigkeit unseres Geistes, der bei jeder neuen Betrachtung der Geliebten immer neue Vorzüge an ihr entdeckt.

Zum Beispiel erzählt ein Fremder an glühend heißen Sommertagen von den kühlen Orangenhainen am Golf von Genua: welche Wonne, denken wir, diese Kühle mit der Geliebten zu genießen!

Oder einer unserer Freunde bricht auf der Jagd einen Arm: welche Seligkeit, sich der Pflege einer geliebten

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_006.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)