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3. Von der Hoffnung


Ein sehr geringer Grad von Hoffnung genügt zur Entstehung der Liebe.

Die Hoffnung kann alsdann nach kurzem Dasein wieder schwinden, trotzdem lebt die einmal erwachte Liebe weiter.

Bei einem Manne von festem, kühnen und ungestümen Charakter und einer durch die Wechselfälle des Lebens entwickelten Phantasie kann die Hoffnung gering sein; sie kann sogar völlig aufhören, ohne damit die Liebe zu töten.

Wenn ferner der Liebende an Unglück gewöhnt ist, wenn er von Natur zartfühlend und nachdenklich ist, wenn er an den anderen Frauen verzweifelt und eine lebhafte Bewunderung für die Eine hegt, so kann ihn kein gewöhnliches Vergnügen von der zweiten Kristallbildung abziehen. Lieber träumt er sich in das ganz ungewisse Glück hinein, ihr eines Tages doch zu gefallen, als daß er die Hingabe einer gewöhnlichen Frau annähme.

Jetzt, wohlgemerkt nicht später, könnte die angebetete Frau die Hoffnung des Liebenden allerdings nur auf die grausamste Weise vernichten, etwa indem sie ihn mit so offenkundiger Verachtung behandelt, daß er dadurch überhaupt in der Gesellschaft unmöglich würde.

Die Entwickelung der Liebe läßt zwischen den einzelnen Stufen mitunter beträchtliche Fristen zu. Ein größeres Maß von Hoffnung und besonders von immer neugenährter Hoffnung verlangt sie bei kalten, phlegmatischen und bei Verstandesmenschen. Ebenso ist es bei schon bejahrten Leuten.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_010.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)