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ich nur solche mit lächerlichen Folgen gelten. So ist ein Beweis der Liebe die Schüchternheit. Natürlich meine ich nicht die törichte Schüchternheit eines Abiturienten.


6. Die Kristallbildung

In der Liebe hört die Kristallbildung fast nie auf. Solange wir von der Geliebten noch keine Beweise ihrer Liebe haben, geht die Kristallbildung eigentlich nur in der Einbildung vor sich. Allein in der Phantasie schwebt uns die Begehrte in aller Vollkommenheit vor. Nach errungenem Siege werden unsere immer wiederkehrenden Zweifel in deutlicherer Weise beschwichtigt. Das Glück ist also nur zu Anfang eintönig, später bringt jeder Tag frische Blüten.

Wenn sich die geliebte Frau ihren leidenschaftlichen Gefühlen zügellos überläßt und den großen Fehler begeht, durch ungestüme Gunstbezeugungen jeden Zweifel in uns verscheuchen zu wollen, so hält die Kristallbildung einen Augenblick inne. Wenn aber die Liebe etwas von ihrer Heftigkeit eingebüßt hat, das heißt, wenn sie nicht mehr fürchtet, dann gewinnt sie den wunderbaren Reiz vollkommener Hingabe und grenzenlosen Vertrauens. Eine süße Sorglosigkeit macht alle Mühsal des Lebens schwinden und verleiht seinen Freuden einen neuen Wert.

In der Verlassenheit fangt die Kristallbildung wieder an. Jede Regung unsrer Verehrung für die Geliebte, jeder Gedanke an das halbvergessene Glück, das sie uns zu gewähren vermag, läuft in die wehmutige

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_014.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)