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8. Kapitel

This was her favoured fairy realm, and here she erected her aerial palaces.

(W. Scott,
Braut von Lammermoor.)

Ein junges Mädchen von achtzehn Jahren ist zu einer starken Kristallbildung noch nicht fähig und bei seiner geringen Lebenserfahrung zu zaghaft im Liebesbegehren, um mit der gleichen Leidenschaft zu lieben, wie ein Weib mit achtundzwanzig Jahren.

Heute Abend unterhielt ich mich hierüber mit einer geistreichen Dame, die gerade das Gegenteil behauptete. „Die Phantasie einer Achtzehnjährigen,“ meinte sie, „ist noch nicht durch irgend eine schlimme Erfahrung ernüchtert und lodert noch im Feuer der ersten Jugend; sie macht sich natürlich vom Manne ein überschwengliches Bild. Jedesmal, wenn sie den Geliebten sieht, genießt sie nicht sein wirkliches Wesen, sondern jenes bezaubernde Bild, das sie sich von ihm ersonnen hat. Später, wenn sie durch den ersten Geliebten und alle anderen Männer enttäuscht worden ist, hat die Erkenntnis der rauhen Wirklichkeit die Kraft zur Kristallbildung geschwächt, und das Mißtrauen hat der Phantasie die Schwingen gestutzt. Nie wieder vermag sie sich von einem Manne, und wenn er ein Muster seines Geschlechts wäre, ein gleich verführerisches Bild zu erdenken. Sie liebt nicht mehr mit der Glut der ersten Jugend. In der Liebe genießt man immer nur die Illusion, die man sich selbst schafft. Und wie die Vorstellung, die sich ein achtundzwanzigjähriges Weib vom Manne macht, nicht mehr so licht und hehr ist, als die, die sich die erste Liebe einer

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_019.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)