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10. Kapitel

Sobald die Kristallbildung einmal begonnen hat, genießt man mit Wonne jede neue Schönheit, die man an der Geliebten neu erblickt.

Was ist aber Schönheit anderes, als eine Quelle der Lust?

Das Lustgefühl ist individuell verschieden und bei verschiedenen Menschen geradezu entgegengesetzt; daher erklärt es sich, daß einer etwas für schön hält, was dem anderen häßlich vorkommt.

Um das Wesen des Schönen zu erklären, müssen wir vorerst die Natur des Lustgefühls bei jedem Einzelwesen untersuchen.

Irgend jemand zum Beispiel beansprucht ein Weib, das gewisse gewagte Annäherungen duldet und durch die Art seines Lächelns das Recht zu sehr vergnüglichen Dingen zugesteht, ein Weib mit sinnlicher Phantasie, das seine Art von Sinnlichkeit herausfordert und ihm gestattet, sie zu betätigen. Er versteht unter Liebe offenbar nur Liebe aus Sinnlichkeit, sein Freund dagegen Liebe aus Leidenschaft. Selbstverständlich können beide auch nicht ein und derselben Meinung über den Begriff des Schönen sein.

Da wir nun eben entwickelt haben, daß Schönheit eine Quelle der Freude und daß Lust individuell ist und sich daher mannigfaltig äußert, so muß die Kristallbildung in der Seele eines Menschen stets dieselbe Färbung zeigen, wie sein individuelles Lustgefühl.

Die Kristallbildung bei unserer Geliebten, oder sagen wir kurz ihre Schönheit, ist nichts anderes, als der Inbegriff der Befriedigung aller Wünsche, die in uns bei ihrem Anblick nach und nach entstanden sind.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_026.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)