Seite:Ueber die Liebe 030.jpg

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Das Hofleben gibt Gelegenheit, zahlreiche Nuancen zu beobachten und zu betätigen, und oft wird solch eine flüchtige Wahrnehmung zum Ursprung unserer Bewunderung und Leidenschaft.[1]

Wenn zu dem durch die Liebe bereiteten Unglück noch anderweitiges Mißgeschick hinzutritt (wenn zum Beispiel unsere Eitelkeit gekränkt wird, indem die Geliebte unseren berechtigten Stolz oder unser Ehrgefühl oder unsere persönliche Würde verletzt, oder wenn unser Unglück durch Krankheit, Geldverlegenheit oder durch politische Unduldsamkeit hervorgerufen ist), so wird die Liebe nur scheinbar durch diese Widerwärtigkeiten vergrößert. In Wirklichkeit aber verhindern diese, indem sie unsere Gedanken nach anderer Richtung hin ablenken, in einer aufkeimenden Liebe die Kristallbildung und in der bereits erhörten Liebe das Entstehen[WS 1] kleiner Zweifel. Erst wenn das Unglück vorüber ist, kehrt die Wonne der Liebe zugleich mit ihrer Torheit zurück.

Beachtenswert ist es, daß Mißgeschick die Entstehung der Liebe bei leichtfertigen und wenig feinfühligen Charakteren erleichtert. Wenn das Unglück schon eingetreten ist, bevor die Liebe entstand, so fördert es diese insofern, als sich die Phantasie aus Ekel vor all den trübseligen Bildern des Lebens nur noch der Kristallbildung widmet.


13. Kapitel

Eine weitere Erfahrung, die man mir vielleicht abstreiten wird, gilt vor allem denen, die, ich möchte sagen, so unglücklich waren, lange Jahre hindurch


  1. [345] Vgl. Saint-Simon und Goethes „Werther“. – Die Seele ist vielseitig, wie ein feingeschliffener Brillant; ein Teil ihrer Einbildungskraft wird dadurch verbraucht, sich der Gesellschaft gegenüber vorzusehen. Charakter ist ein Reiz, der die meisten Frauenherzen bezaubert. Daher der Erfolg junger ernster Offiziere. Die Frauen verstehen es vortrefflich, zwischen dem Ungestüm leidenschaftlicher Regungen, deren Möglichkeit sie in ihrem Herzen fühlen, und der Stärke des Charakters zu unterscheiden. Die vornehmsten Frauen werden in dieser Hinsicht mitunter durch etwas Charlatanerie getäuscht. Man kann sie unbesorgt anwenden, sobald man merkt, daß die Kristallbildung begonnen hat.
  1. Vorlage: Enstehen
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_030.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)