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dann in philosophisches Zergliedern des Genusses und verscheucht sie dadurch für immer, denn nichts lähmt die Phantasie so sehr, wie das Wachrufen der Erinnerung. Wenn ich zum Beispiel eine solche Randbemerkung wiederfinde, die meine Empfindungen beim Lesen von Scotts „Old Mortality“ vor drei Jahren in Florenz wiederspiegelt, so vertiefe ich mich sofort in die Vergangenheit meines Lebens, in einen Vergleich meines Glückszustandes von heute und damals, kurz in die höchste Philosophie, und das Sich-Hingeben an zarte Empfindungen ist auf lange Zeit vorbei.

Jeder echte Dichter, der eine rege Phantasie hat, ist scheu, das heißt, er fürchtet die Menschen, weil sie ihn in seinen köstlichen Stimmungen stören und ablenken. Ihm ist um seine innere Sammlung bange. Die Menschen mit ihren groben Wünschen wollen ihn aus den Gärten der Armida entführen und in einen gemeinen Sumpf treiben. Sie können sich ihm nicht anders bemerkbar machen, als durch Belästigungen. Durch die Gewohnheit, seine Seele mit holden Träumen zu nähren, und durch seinen Abscheu vor allem Gemeinen ist der große Künstler der Liebe nie fern.

Je größer ein Mensch als Künstler ist, um so mehr sollte er danach trachten, sich durch Rang und Auszeichnungen gleichsam unnahbar zu machen.


14. Kapitel

Mitten in der gewaltigsten, unerfüllbarsten Leidenschaft kommen Augenblicke, in denen wir uns plötzlich einbilden, nicht mehr zu lieben. Es gibt Süßwasserquellen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_033.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)