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mitten im Meere. Fast haben wir keine Freude mehr daran, der Geliebten zu gedenken. Schon über ihre Abweisungen betrübt, fühlen wir uns auch noch deshalb unglücklich, weil uns die ganze übrige Welt schal geworden ist. Die trübseligste und mutloseste Niedergeschlagenheit löst eine Stimmung ab, die zweifellos erregt war, in der uns jedoch alles in einem neuen, leidenschaftlichen und bedeutungsvollen Lichte erschien.

Der Grund ist, daß der letzte Besuch bei der Geliebten uns in einen Zustand versetzt hat, den wir schon früher einmal mit allen Empfindungen unseres Herzens durchlebt haben, zum Beispiel, wenn die Geliebte lange Zeit kalt gegen uns war und uns diesmal besser behandelt; damit regt sie in uns genau dieselben Hoffnungen an, und zwar durch die nämlichen äußeren Zeichen, wie früher schon einmal. Vielleicht hat sie selbst keine Ahnung davon. Aber unsere Phantasie entsinnt sich der Erfahrungen und ihrer trüben Warnungen, und die Kristallbildung hört sofort auf.


15. Kapitel

Heute Abend habe ich gemerkt, daß wahrhaft edle Musik die Seele in genau dieselbe Stimmung bringt, wie wenn wir die Gegenwart unserer Geliebten genießen, daß sie uns also das anscheinend höchste Glück auf Erden gewährt.

Wenn es allen Menschen wie mir geht, dann macht uns nichts für die Liebe empfänglicher, als die Musik.

Ich habe schon im vergangenen Jahre in Neapel (1821) die Beobachtung gemacht, daß ausgezeichnete

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_034.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)