Seite:Ueber die Liebe 037.jpg

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ist, fängt er an, Betrachtungen anzustellen, ob sie hübsch ist oder nicht. Solange er über ihre Gegenliebe noch im Zweifel ist, hat er keine Zeit, an ihre äußere Schönheit zu denken.)

Ein anderer lernt eine Frau kennen, durch deren Häßlichkeit er anfangs abgeschreckt wird. Nach und nach läßt ihn ihre Bescheidenheit und der Ausdruck ihrer Züge die Fehler ihres Gesichts vergessen. Er findet sie liebenswert und gibt die Möglichkeit zu, sie lieben zu können. Acht Tage später hofft er, sie zu gewinnen; nach weiteren acht Tagen zerstört sie ihm diese Hoffnung und wieder acht Tage darauf ist er in sie vernarrt.


17. Kapitel

Im Theater macht man an beliebten Schauspielern eine ähnliche Beobachtung: die Zuschauer sehen nicht mehr ihre wirkliche Schönheit oder Häßlichkeit. Lekain, der mager und auffällig häßlich war, wußte in hohem Maße die Leidenschaften zu entfachen, ebenso Garrick. Es gibt verschiedene Gründe dafür; der hauptsächlichste ist der, daß man die wirklichen Züge und Bewegungen der Schauspieler nicht mehr sieht, sondern nur die Schönheit, die ihnen die Phantasie gewohnheitsmäßig verleiht, in dankbarer Erinnerung an alle schon früher gewährten Genüsse. So reizt uns schon das Gesicht eines bekannten Komikers zum Lachen, sobald er nur die Bühne betritt.

Ein junges Mädchen, das zum erstenmale ins Théâtre français geführt wurde, mochte allerdings

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_037.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)