Seite:Ueber die Liebe 038.jpg

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während der ersten Szenen eine gewisse Abscheu vor Lekain empfinden. Bald aber brachte er es zum Weinen und zum Zittern. Anfangs wirkte wohl seine Häßlichkeit ein wenig störend, doch sehr bald wurde dieser Eindruck durch die allgemeine Begeisterung und den für ein junges Herz erschütternden Eindruck verscheucht.[1] Nichts blieb von seiner Häßlichkeit übrig, als ihr Ruf, und kaum dieser, denn man hörte Frauen enthusiastisch über Lekain ausrufen: „Wie schön ist er!“

Vergessen wir nicht, daß die Schönheit der Ausdruck des Charakters ist oder, mit anderen Worten, der innerlichen Eigenschaften, und daß sie infolgedessen leidenschaftslos ist. Wir bedürfen aber der Leidenschaft. Die Schönheit vermag uns nur Vermutungen über den Wert einer Frau einzugeben, vor allem die, daß sie kaltherzig ist. Dagegen ist das Antlitz einer Geliebten, das durch Blatternarben verunziert wird, holde Wirklichkeit, die alle Vermutungen überflüssig macht.


18. Weitere Ausnahmen der Schönheit

Es gibt geistreiche und zärtliche Frauen von zaghafter und mißtrauischer Feinfühligkeit, die, wenn sie in Gesellschaft gewesen sind, am Tage darauf mit peinlicher Ängstlichkeit alles das tausendfach wieder überdenken, was sie gesagt oder auch nur angedeutet haben. Solche Frauen gewöhnen sich leicht an die Schönheitsfehler eines Mannes. Ungestört dadurch schenken sie ihm ihre Liebe.

Aus eben dem Grunde sind wir Männer sehr gleichgiltig für den Grad der Schönheit einer Angebeteten,


  1. [345] Gerade dieser nervösen Sympathie möchte ich die wunderbare und unerklärliche Wirkung der Modemusik zuschreiben. (Dresden, Rossini, 1821.) Wenn sie nicht mehr mode ist, wird sie deshalb nicht schlechter, [346] aber sie macht keinen Eindruck mehr auf die leichtentflammten Herzen der Jugend. Vielleicht gefiel sie nur, weil sie die jugendliche Begeisterung erregte. Frau von Sévigné (Brief 202 vom 6. Mai 1672) schreibt ihrer Tochter: „Lully hat mit der königlichen Kapelle das Höchste erreicht. Dieses schöne Miserere enthält ein Libera, bei dem aller Augen tränenfeucht wurden ...“ Man kann ebensowenig an der Wahrheit jenes Eindrucks zweifeln, als Frau von Sévigné guten Geschmack abstreiten. Die Musik Lullys, die sie entzückte, würde heutzutage abstoßen. Damals regte sie die Kristallbildung an, heute nimmermehr.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_038.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)