Seite:Ueber die Liebe 039.jpg

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die uns kalt behandelt. Die Schönheit hat mit dem Gedeihen der Liebe kaum etwas zu schaffen. Wenn uns ein Freund, um uns zu kurieren, sagt, unsere Geliebte sei nicht hübsch, so geben wir ihm beinahe recht, und er wähnt, ein großes Werk vollbracht zu haben.

Mein Freund, der brave Kapitän Trab, schilderte mir heute Abend den Eindruck, den einst Mirabeau auf ihn gemacht hat.

Niemand, der diesen großen Mann betrachtete, empfand einen unangenehmen Eindruck, das heißt, keiner fand ihn häßlich. Durch seine packenden Worte hingerissen, schenkte man seine Aufmerksamkeit mit Genuß den schönen Zügen seines Gesichts, Da aber in seinem Gesicht fast nichts schön war – nach den Schönheitsgesetzen der Bildhauerkunst oder der Malerei – so war man achtsam auf das Eigentümliche einer anderen Schönheit, der des Ausdrucks.

Während die Aufmerksamkeit alles vom künstlerischen Standpunkt Häßliche übersah, schmiegte sie sich um so liebevoller an die kleinsten Vorzüge, zum Beispiel an die Schönheit seines vollen Haares, an. Hätte er Hörner gehabt, man hätte sie auch schön gefunden.

Das ist der Vorteil, wenn man in Mode ist. Sobald man die Schönheitsfehler an jemandem kennt und diese keinen eigentlichen Einfluß mehr auf uns ausüben, suchen wir folgende drei Arten von Schönheit an ihm zu entdecken:

1. im Volke den Reichtum,

2. in der Gesellschaft die körperliche oder geistige Eleganz,


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_039.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)