Seite:Ueber die Liebe 044.jpg

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sich ihr Erstaunen vor, in ihrem Schlafzimmer mitten in der Nacht einen fremden Mann zu erblicken. Sie zitterte vor mir und stieß einen Schrei aus … Ich gab mir die grüßte Mühe, sie zu beruhigen, sank auf die Kniee und sagte zu ihr: „Gnädige Frau, fürchten Sie nichts“ … Sie rief nach ihren Kammerfrauen … Durch das Erscheinen einer kleinen Zofe etwas beherzter geworden, fragte sie mich in stolzem Tone, wer ich wäre …“

Das ist eine erste Begegnung, die man nicht so leicht wieder vergißt. Wie töricht ist im Gegensatze hierzu die steife und rührselige Art, mit der man nach unseren heutigen Sitten einem jungen Mädchen seinen „Zukünftigen“ vorstellt. Das ist eine von der Gesellschaft gebilligte Prostitution, eine Verletzung des Schamgefühls.

„Heute Nachmittag, am 17, Februar 1790,“ schreibt Chamfort (IV, 155), „habe ich einer sogenannten Familienzeremonie beigewohnt, das heißt, ehrbare und angesehene Leute aus achtbarem Gesellschaftskreise wünschten Fräulein von Marille, einem klugen und tugendhaften jungen Mädchen, Glück, weil es den Vorzug hat, die Gattin eines Herrn R*** zu werden, eines kränklichen, unausstehlichen, unhöflichen und verblödeten, aber reichen alten Mannes. Heute bei der Unterzeichnung des Ehekontraktes haben sie sich zum dritten Male gesehen.

Nichts kennzeichnet die Ehrlosigkeit eines Jahrhunderts deutlicher, als derartige Veranlassungen zu Glückwünschen, als die Lächerlichkeit einer solchen Feier, und dann die prüde Grausamkeit und die ungeheure Verachtung, mit der dieselbe Gesellschaft eine

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_044.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)