Seite:Ueber die Liebe 045.jpg

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auf diese Weise verheiratete, liebebedürftige, arme junge Frau bei der geringsten Unvorsichtigkeit verurteilt.“

Jede Zeremonie ist an sich unnatürlich und auf irgend einen Vorteil berechnet; die Hauptsache dabei ist das standesgemäße Auftreten. Darum ist sie eine Feindin der Phantasie. Diese kommt höchstens zur Geltung, indem sie dem Zwecke der Zeremonie entgegen das Lächerliche an ihr zu entdecken sucht. Daraus erklärt sich auch die magische Wirkung der geringsten boshaften Bemerkung. Ein junges, in seiner Schamhaftigkeit und Schüchternheit befangenes Mädchen kann während der feierlichen Vorstellung des Zukünftigen nichts anderes tun, als an die ihm zugeteilte Rolle denken. Das ist das sicherste Mittel, die Phantasie zu töten.

Es ist viel mehr gegen das Schamgefühl, wenn ein Mädchen mit einem Manne zu Bett geht, den es nur zweimal gesehen hat, nachdem es in der Kirche ein paar unverstandene Formeln gehört hat, als daß es sich wider Willen einem Manne hingibt, den es seit zwei Jahren anbetet. Aber ich sage da Dinge, die niemand versteht.

Diese Schamlosigkeit ist die fruchtbare Quelle der Verworfenheit und des Unglücks unserer modernen Ehen. Sie nimmt dem jungen Mädchen vor der Ehe jede Freiheit und in der Ehe das Recht der Scheidung, wenn es sich getäuscht hat, oder richtiger, wenn es durch die aufgezwungene Wahl getäuscht worden ist. Blicken wir einmal nach Deutschland, dem Lande der glücklichen Ehen, wo eben eine Prinzessin, die Herzogin zu Sa***, ehrsam zum viertenmale heiratet und nicht verfehlt, zu dieser Hochzeit alle drei früheren

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_045.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)