Seite:Ueber die Liebe 060.jpg

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beobachte ich, wie sie einen Dummkopf in den Himmel heben, sich von einem faden Schwätzer zu Tränen rühren lassen oder geistloses, geziertes Gebaren als ernsten Charakterzug nehmen. Für solche Einfalt fehlt mir das Verständnis, Es muß da irgend ein allgemeines Gesetz geben, das ich nicht kenne.

Sie haben einen Vorzug an einem Manne entdeckt, sind über eine Einzelheit entzückt und lassen diese lebhaft auf sich einwirken, ohne für alles andere an ihm die geringste Teilnahme zu haben.

Ich habe zugesehen, wenn hervorragende Männer geistreichen Frauen vorgestellt wurden. Immer war ein Körnchen Vorurteil im Spiele, daß für den Eindruck der ersten Begegnung entscheidend war.

Wenn ich ein eigenes Erlebnis einfügen darf, so möchte ich erzählen, wie der liebenswürdige Oberst B*** der Frau von Struve in Königsberg vorgestellt wurde. Sie war eine ganz bedeutende Frau, und wir fragten uns gegenseitig: wird er Eindruck auf sie machen? Man wettet. Ich trete an Frau von Struve heran und berichte ihr, daß der Oberst seine Halsbinden zwei Tage hintereinander trage; am zweiten Tage pflege er sie nach der reinen Seite umzuwenden. Sie könne an seiner Binde die Querfalten bemerken. Nichts war unwahrer.

Kaum bin ich damit fertig, als jener reizende Mensch angemeldet wird. Der kleinste Pariser Stutzer hätte einen günstigeren Eindruck hervorgerufen. Ich erwähne, daß Frau von Struve ihren Mann liebte. Sie war eine ehrenwerte Frau; von galanten Beziehungen zwischen beiden konnte darum keine Rede sein, wenn auch beide für einander wie geschaffen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_060.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)