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waren. Man sagte jener Frau nach, sie sei romantisch veranlagt, und ihn konnte nichts mehr reizen, als gerade romantisch übertriebene Tugend. Sie hat ihn in jungen Jahren in den Tod getrieben.

Frauen haben die Gabe, in wunderbarer Weise alle Schattierungen der Liebe, die unmerkbarsten Schwankungen des Menschenherzens und die geringsten Regungen der Eigenliebe zu fühlen. In dieser Beziehung haben sie einen Sinn mehr als wir Männer. Das geht auch aus der Art hervor, wie sie Verwundete zu pflegen verstehen.

Vielleicht haben sie dafür kein rechtes Urteil über geistige Eigenschaften und den inneren Wert eines Menschen. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß ausgezeichnete Frauen von einem geistvollen Manne entzückt waren, und gleich darauf, fast in demselben Satze, einen der größten Hohlköpfe bewunderten. Das gab mir einen Stich wie einem Kenner, der zusieht, wie echte Diamanten für Straßsteine, und Straßsteine für echte gehalten werden, nur weil sie größer sind.

Ich habe daraus geschlossen, daß man Frauen gegenüber alles wagen muß. Dort wo der General Lasalle scheiterte, hat ein bärtiger und fluchender Hauptmann Erfolg (Posen, 1807). Sicherlich gibt es am Werte eines Mannes vieles, was Frauen nicht ahnen.

Mit Vorliebe pflege ich nach Naturgesetzen zu suchen. Die Kraft der Nerven verbraucht sich bei Männern durch das Gehirn, bei Frauen durch das Herz. Deshalb sind diese empfindsamer. Uns tröstet die Arbeit und der Beruf, der unser ganzes Leben ausfüllt; für

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_061.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)