Seite:Ueber die Liebe 063.jpg

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Gute Mütter erziehen ihren Töchtern von klein auf das Schamgefühl an, und dies mit größter Eifersucht, gewissermaßen aus Korpsgeist. Damit sorgen sie schon für das Glück der künftigen Liebhaber ihrer Töchter.

Eine schüchterne und zartfühlende Frau empfindet die größte Pein, wenn sie sich in Gegenwart eines Mannes irgend etwas erlaubt hat, worüber sie erröten muß. Ich bin überzeugt, daß jede einigermaßen stolze Frau in solchen Augenblicken lieber tausendmal sterben möchte. Ein geringes Sichgehenlassen, vom geliebten Manne liebenswürdig aufgefaßt, gewährt für den Augenblick lebhaftes Vergnügen; argwöhnt aber eine Frau, daß er sie darum tadeln möchte, oder daß er nicht wirklich darüber entzückt ist, so bleiben in ihrer Seele furchtbare Zweifel. Jede höher stehende Frau muß in ihrem ganzen Wesen unnahbar sein. Der Einsatz ist ja auch zu ungleich; man setzt für ein geringfügiges Vergnügen, für den Vorteil, ein wenig liebreizender zu erscheinen, allerlei Gefahren aufs Spiel: brennende Reue und ein Schamgefühl, das selbst den Geliebten in den Augen der Frau herabsetzen kann. Ein fröhlicher, leichtsinniger und sorgloser Abend wird somit teuer bezahlt. Wenn sich eine Frau einen solchen Fehltritt vorzuwerfen hat, wird ihr der Anblick des Geliebten für viele Tage verhaßt. Kann man sich also über die Macht einer Gewohnheit bei den Frauen wundern, deren geringste Außerachtlassung sie mit dem Gefühle der größten Schmach büßen?

Die Schamhaftigkeit hat ihr Gutes, denn sie ist die Mutter der Liebe. Niemand kann ihr das abstreiten. Es ist das eine einfache Folge des Gefühlsmechanismus. Die Seele denkt an die Scham, statt an ihr

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_063.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)