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Fünftens: Die Frauen fühlen die Lust der Sinne um so berauschender. Da sie eine mächtige Gewohnheit besiegen, ist ihr Gemüt um so erregter.

Graf Valmont findet sich nachts im Schlafgemach einer hübschen Frau; er erlebt dergleichen alle Wochen, die Frau vielleicht alle zwei Jahre einmal. Die Seltenheit und das Schamgefühl müssen also den Frauen viel lebhaftere Freuden gewähren.[1]

Sechstens: Schlimm ist es, daß die Schamhaftigkeit immer zu Lügen verleitet.

Siebentes: Die Übertreibung der Schamhaftigkeit und ihre Strenge schrecken zarte und ängstliche Seelen von der Liebe ab, gerade solche, die geschaffen sind, die köstlichste Liebe zu gewähren und zu empfangen.

Achtens: Feinfühlige Frauen, die noch nicht mehrere Liebhaber gehabt haben, hindert die Schamhaftigkeit, sich ungezwungen zu geben. Sie lassen sich deshalb ein wenig von solchen Freundinnen leiten, die sich nicht den gleichen Fehler vorzuwerfen haben. Sie sind allzu achtsam auf jede Einzelheit, anstatt sich blindlings ihrer Gewohnheit hinzugeben. Ihr empfindsames Schamgefühl verleiht ihren Bewegungen etwas Gezwungenes; weil sie mit Gewalt natürlich sein wollen, geht ihnen die Natürlichkeit verloren. Aber selbst ihrem linkischen Wesen haftet himmlische Anmut an.

Manchmal sieht die Freundschaft der Frauen wie Zärtlichkeit aus, weil sie in ihrer engelhaften Güte unbewußt kokett sind. Zu träge, ihre Traumwelt zu verlassen, scheuen sie die Mühe, auf eine Plauderei einzugehen, und statt einem Freunde irgend etwas Liebenswürdiges oder Höfliches zu sagen, stützen sie sich lieber zärtlich auf seinen Arm.


  1. [346] Das ist die Geschichte des melancholischen Temperaments im Vergleiche zum sanguinischen. Man betrachte eine tugendhafte Frau, selbst wenn sie die kaufmännische Tugend gewisser Betschwestern übt – jene Tugend, die im Paradiese hundertfach vergolten wird, – und einen blasierten Lebemann von vierzig Jahren. Obgleich Valmont in den „Liaisons dangereuses“ [von Choderlos de Laclos] das noch nicht ist, so ist doch durch das ganze Buch hin die Präsidentin von Tourvel glücklicher, als [347] er. Und wenn der geistvolle Verfasser noch geistvoller gewesen wäre, so hätte er diese Idee zur Moral seines hervorragenden Romanes gemacht.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_069.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)