Seite:Ueber die Liebe 078.jpg

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Antwort liebte sie ihn mit neuentfachter Leidenschaft. Stolze Frauen lieben den Stolz an ihrem Geliebten; er hindert sie, den eignen Stolz an ihm auszulassen.

Der Charakter des Herzogs von Lauzun (ich meine den von 1660)[1] ist für solche und vielleicht für alle vornehmen Frauen verführerisch, wenn sie ihm vom ersten Tage an den Mangel an Anmut verzeihen können. Für wahre Erhabenheit haben sie keinen Sinn; sie legen die Ruhe, die alles beobachtet, ohne sich über Einzelheiten aufzuregen, für Kälte aus. Ich habe Damen am Hofe zu Saint-Cloud urteilen hören, Napoleon sei ein trockener und prosaischer Mensch gewesen.[2] Der große Mann ist wie ein Adler: je höher er fliegt, um so kleiner erscheint er, und für seine Größe wird er durch die Einsamkeit seiner Seele gestraft.

Aus dem weiblichen Stolze entsteht das Gefühl für das, was die Frauen „Mangel an Zartgefühl“ nennen. Ich glaube, es ist etwas ganz Ähnliches wie das, was die Könige als „Majestätsverbrechen“ bezeichnen, ein Vergehen, das um so gefährlicher ist, je ahnungsloser man es begeht. Der zartfühlendste Liebende kann des Mangels an Zartgefühl bezichtigt werden, wenn er nicht sehr geistvoll ist, oder – was viel trostloser ist – wenn er sich dem größten Reize der Liebe hingibt: dem Glücke, gegen die Geliebten völlig natürlich zu sein und auf das, was sie sagt, nicht zu achten.

Das sind Dinge, von denen ein wohlerzogenes Herz keine Ahnung hat, und die man selbst erlebt haben muß, um sie zu glauben, denn wir Männer sind gewohnt, mit unseren Freunden gerecht und offen umzugehen.


  1. [347] Größe und Mut in Kleinigkeiten, aber mit leidenschaftlicher Sorgfalt dabei. Die Heftigkeit des cholerischen Temperaments. Sein Verhalten gegen Madame de Monaco (Saint-Simon, V, 383); sein Abenteuer unter dem Bett von Madame de Montespan, als der König bei ihr war. Ohne die Sorgfalt in Kleinigkeiten wäre ein solcher Charakter für Frauen unverständlich.
  2. [347]When Minna Toil heard a tale of woe of romance, ist was then her blood rushed to her cheeks, and shewed plainly how warm it beat notwithstanding [348] the generally serious composed and retiring disposition which her countenance and demeanour seemed to exhibit.
    (The Pirate I, 33.)

    Gewöhnliche Menschen halten Naturen wie Minna Toil, die alltägliche Ereignisse ihrer Gemütserregung nicht für wert erachten, für kalt.

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_078.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)