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alles gebeichtet. Er ist eine schöne Seele; aber wie kalt würde sich das lesen, was er mir gesagt hat.

Er glaubte, er würde nicht geliebt. Ich bin anderer Meinung. Zwar kann man in dem schönen Marmorantlitz der Gräfin Chigi, in deren Hause wir den Abend vorher gemeinsam verbracht hatten, nichts lesen. Nur manchmal verrät ein leichtes, plötzliches Erröten, das sie nicht verbergen kann, die Erregtheit ihrer Seele, in der übertriebener weiblicher Stolz und starke Leidenschaften streiten. Dann rötet sich sogar ihr Alabasterhals und ihre herrlichen, eines Canova würdigen Schultern, soweit sie sichtbar sind. Nun versteht sie zwar vortrefflich die Kunst, ihre schwarzen, schwermütigen Augen solchen Beobachtern zu entziehen, deren zu großen Scharfblick ihr Zartgefühl fürchtet. Aber doch beobachtete ich gestern Abend, daß bei einer gewissen Bemerkung Delfantes eine plötzliche Röte sie ganz überflutete. Ihre große Seele fand ihn ihrer weniger würdig.

Aber auch, wenn ich mich in meinen Vermutungen über das Glück Delfantes täuschen sollte, halte ich ihn, wenn ich von der Eitelkeit absehe, für glücklicher als mich, der ich nicht verliebt bin, wiewohl ich mich dem Anschein nach wie in Wirklichkeit in einer recht glücklichen Lage befinde.


29. Ein sonderbares und trauriges Schauspiel

Es ist eine Folge des weiblichen Stolzes, daß die Frauen wegen dummer Leute an geistvollen Menschen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_083.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)