Seite:Ueber die Liebe 084.jpg

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und wegen prosaischer Geldjäger und roher Kraftnaturen an edlen Seelen Rache üben. Das ist eine traurige Folge.

Die kleinlichen Erwägungen des Stolzes und die Rücksichtnahme auf die Gesellschaft haben manche Frau unglücklich gemacht, und die elterliche Eitelkeit hat manche Frau in eine entsetzliche Lage gebracht. Das Schicksal hatte ihnen als reichlichen Trost für all ihr Unglück glückliche Liebe und leidenschaftliche Gegenliebe zugedacht. Eines schönen Tages aber verfallen sie in den falschen und unvernünftigen Stolz ihrer Feinde, deren Opfer sie schon einmal waren. Sie töten das einzige Glück, das ihnen blieb, und machen sich selbst und den Geliebten unglücklich. Eine ihrer Freundinnen, die zehn stadtbekannte Liebesverhältnisse, und nicht einmal eins nach dem andern gehabt hat, redet ihnen gewichtig ein, daß sie durch ihre Liebe in den Augen der Mitmenschen entehrt würden. Und gerade diese guten Mitmenschen, die sich immer nur zu Niederträchtigkeiten einstellen, sind es, die ihnen großmütig alle Jahre einen Liebhaber zuschreiben, weil dies die Regel ist, wie sie sagen. Es ist ein Schauspiel, das die Seele betrübt: eine zartfühlende und überaus rücksichtsvolle Frau, ein Engel an Reinheit, flieht auf den Rat einer abgebrühten Kokette ihr unermeßliches, einziges und letztes Glück, nur um in fleckenlos weißem Gewande vor einen groben Tölpel von Richter hintreten zu können, der seit hundert Jahren als blind bekannt ist und aus vollem Halse schreit: „Sie trägt ein schwarzes Kleid!“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_084.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)