Seite:Ueber die Liebe 097.jpg

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versteht man, von der gewohnten Art und Weise des Benehmens nicht abzuweichen. Selbstverständlich darf man die Geliebte nie belügen, niemals das Geringste beschönigen und niemals die echte Wahrheit entstellen. Denn wenn man das tut, sind die Gedanken auf das Beschönigen gerichtet, und man antwortet nicht mehr, wie eine Klaviertaste unter dem Drucke der Hand, auf die Empfindung, die in ihren Augen liegt. Sie merkt das bald an einem gewissen Kältegefühl und flüchtet nun in den Schutz der Koketterie. Vielleicht liegt hierin auch der verborgene Grund, weshalb wir eine Frau von zu geringem Geiste nicht lieben mögen. Man kann sich ihr gegenüber ungestraft verstellen, und da Verstellung einem aus Gewohnheit viel bequemer ist, verliert man ganz seine Natürlichkeit. Dann ist die Liebe keine Liebe mehr; sie sinkt zu einem gewöhnlichen Geschäft herab, nur mit dem Unterschiede, daß es sich, statt um Geld, um Vergnügen oder die Befriedigung der Eitelkeit oder um beides zusammen dreht. Allerdings ist es schwer, nicht etwas Verachtung für eine Frau zu empfinden, mit der man ungestraft Komödie spielen darf. Infolgedessen läßt man sie gewöhnlich sitzen, sobald man etwas in dieser Hinsicht Besseres findet. Gewohnheit und Pflicht binden manchmal dauernd; aber ich spreche nur von der freien Herzensneigung, deren Eigenart es ist, nach dem höchsten Genuß zu streben.

Ich komme auf das Wort „natürlich“ zurück. Natürlichkeit und Gewohnheit sind zweierlei. Faßt man beide Worte im gleichen Sinne auf, so ist es klar, daß es um so schwerer ist, natürlich zu sein, je feinfühliger man ist; denn die Gewohnheit hat keinen allzu mächtigen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_097.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)