Seite:Ueber die Liebe 099.jpg

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natürlich in seinen Bewegungen, die uns durch die Gewohnheit doch so tief in den Muskeln wurzeln. Wenn ich meiner Geliebten den Arm reiche, habe ich immer das Gefühl zu stolpern und muß auf meine Füße aufpassen. Höchstens kann man sich vor absichtlicher Geziertheit bewahren; es genügt, wenn man sich bewußt ist, daß Mangel an Natürlichkeit den größten Nachteil bringt und leicht zur Quelle des größten Unglücks werden kann. Das Herz der geliebten Frau versteht das unsrige nicht mehr; wir verlieren jenen starken, ungewollten Affekt der Offenherzigkeit, die wieder Offenherzigkeit erweckt. Es bleibt uns nun kein Mittel mehr, sie zu rühren, ich hätte beinahe gesagt, sie zu gewinnen. Ich will damit nicht etwa leugnen, daß eine der Liebe würdige Frau ihr Schicksal nicht in jenem schönen Wahlspruch des Efeus suchen dürfe, „der stirbt, wenn er sich nicht anschmiegt“. Das ist ein Naturgesetz, aber es ist stets ein entscheidender Schritt zum Glück, wenn eine Frau das Glück des geliebten Mannes sein will. Ich bin der Meinung, daß eine verständige Frau erst dann ihrem Geliebten alles bewilligen darf, wenn sie sich nicht mehr verteidigen kann. Aber der leiseste Verdacht gegen die Aufrichtigkeit unseres Herzens gibt ihr sofort einen Teil ihrer Kraft zurück und verzögert ihre Niederlage mindestens um einen Tag.[1]

Immer einen kleinen Zweifel beschwichtigen zu müssen, das ist die Sehnsucht jedes Augenblicks, das ist die Sonne der glücklichen Liebe. Da die Furcht nie von ihr weicht, können auch ihre Freuden sich niemals erschöpfen. Grenzenloser Ernst ist das Eigenartige an diesem Glücke.


  1. [349]Haec autem ad acerbam rei memoriam, amara quadam dulcedine scribere visum est ... ut cogitem nihil esse debere quod amplius mihi placeat in hac vita.“ Petrarca.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_099.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)