Seite:Ueber die Liebe 116.jpg

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Dabei geht man aber weit über das verständige Maß hinaus.

Um seine eigene Übertreibung zu rechtfertigen, kommt man manchmal dahin, sich zu sagen, der Mitbewerber sei bestrebt, uns zum Narren zu halten.

Der Ehrgeiz ist eine Krankheit der Ehre. Man findet ihn sehr häufig in Monarchien, viel seltener in Ländern, wo man Handlungen nach dem Grade ihrer Nützlichkeit zu schätzen pflegt, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Jedermann, in Frankreich noch mehr als anderswo, fürchtet sich, zum Narren gehalten zu werden. Indessen wird dieser Ehrgeiz durch die Leichtfertigkeit des altfranzösischen höfischen Geistes daran behindert, in anderen Dingen großes Unheil anzustiften, als in der Galanterie und in der Liebe aus Eitelkeit. Bedenkliche Schandtaten hat er nur in solchen monarchischen Ländern verursacht, wo das Klima den menschlichen Charakter verdüstert (in Portugal, in Piemont).

Der Provinzialfranzose macht sich eine lächerliche Vorstellung von dem, was in der Gesellschaft einen galanten Mann ausmacht. Er stellt sich auf die Lauer und beobachtet so sein ganzes Leben lang. Je unkultivierter, desto ehrgeiziger ist er, und das macht ihn sogar in seiner Liebe lächerlich. Hierdurch und durch den Neid wird der Aufenthalt in Kleinstädten so unerträglich. Daran muß man hauptsächlich denken, wenn uns die malerische Lage einer solchen zur Bewunderung anregt. Unsere edelsten und vornehmsten Regungen werden durch längeren Aufenthalt in diesen Niederungen der Kultur gelähmt. Dazu reden die Spießbürger greulicherweise immer von der Verderbnis der Großstädte.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_116.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)